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02 Die Kinder der Rothschildallee

02 Die Kinder der Rothschildallee

Titel: 02 Die Kinder der Rothschildallee
Autoren: Stefanie Zweig
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WENN ES AN DER TÜR KLOPFT
    Silvester 1926
    Die einzige der vier Töchter des renommierten Frankfurter Geschäftsmanns Johann Isidor Sternberg, deren Charakter dem liebenswerten und fröhlichen Naturell seiner Frau Betsy ähnelte, war die achtzehnjährige Anna. Dank dieser lebensbejahenden Heiterkeit und einer Natürlichkeit, die ihre drei Schwestern als ein überholtes Relikt aus bürgerlichen Zeiten belächelten, war Anna der Trost ihres alternden Vaters. Obwohl ihr Kinderglück und Urvertrauen sehr früh genommen worden waren, blieb Anna die Optimistin, die sich zu ihrem vierten Geburtstag einen Teppich aus Rosinen und eine Kutsche aus Marzipan gewünscht hatte und die dann eine Tüte Makronen bejubelte.
    Der Backfisch Anna war auf sehr sympathische Weise von der Launenhaftigkeit und dem Missmut verschont worden, die das Zusammenleben mit ihrer gleichaltrigen Schwester in der Zeit der beginnenden Nestflucht zu einem Tanz auf dem Vulkan machten. »Anna grinst sogar das Salzfass an«, pflegte Victoria am Frühstückstisch zu konstatieren, wenn ihr die Mutter die gute Laune ihrer gleichaltrigen Schwester vorhielt. »Das weiß doch jeder, dass sie eine Heilige ist.«
    Bei Anna hatte sich seitdem nichts verändert. Ihr Optimismus und ihre Freundlichkeit fielen auch Leuten auf, die Unfreundlichkeit und Pessimismus für die einzig möglichen Lebensbegleiter hielten. Anna brauchte doppelt so viel Zeit wie ihre Mutter, um Brötchen zu holen. Nie kam sie an den Kindern vorbei, die in der Anlage in der Günthersburgallee mit Schaukel, Wippe und Sandkasten spielten. Mit den Nachbarn im Hausflur unterhielt sie sich so lange, als wäre sie gerade von einer Weltreise zurückgekehrt, und sie ließ sich von Fremden in nicht enden wollende Gespräche ziehen. Wenn die Geschäftsleute auf der Berger Straße über die Zeiten und die Politiker klagten, war Anna eine aufmerksame und anteilnehmende Zuhörerin. Sie erkundigte sich nach der Familie des Schornsteinfegers, tröstete weinende Kinder mit Bonbons, die sie eigens zu diesem Zweck besorgte, und bewunderte die Babys stolzer Puppenmütter. Auch jeder Hund, der in ihren Augen aussah, als brauche er Zuspruch und einen Klaps auf den Kopf, wurde von Fräulein Anna bedacht.
    Ihre Schwester Clara, acht Jahre älter und um Äonen lebenserfahrener, beliebte des Öfteren – und auch in Gesellschaft! – zu erzählen, sie hätte Anna heimlich beim Fischhändler beobachtet. Dort hätte Anna mit einer ganzen Platte grüner Heringe geflirtet. »Und mich haben noch nicht mal die Karpfen mit einem Blick beachtet, und die waren noch lebendig.«
    Wenn Anna nachts die Gardinen ihres Zimmers zuzog, hüpfte sie immer noch in den siebten Himmel. In dem Regal über ihrem Bett standen ihre alten Märchenbücher und die sentimentalen Geschichten für junge Mädchen, die ihr weisgemacht hatten, das Leben sei ein Kinderspiel. Die Puppe, die das mutterlose, verängstigte achtjährige Kind im Arm gehalten hatte, als ihr Vater sie in sein Heim und zu seiner Frau gebracht hatte, saß wie in alten Zeiten auf dem kleinen Sofa und schaute zum Mond. Der alte Teddybär hatte eine grüne Jacke an und eine rote Schleife um den Hals.
    Die Idylle trog – Anna war keine, die nicht erwachsen werden wollte. Sie verlangte nicht nach den Armen, die sie behütet hatten. Sie war auf eine besondere Weise lebensklug, denn sie war schon früh imstande gewesen, sich vor den Illusionen zu hüten, die junge Menschen erbarmungslos in die Irre führen. Wenn Anna aus dem reichen Hause Sternberg träumte, war sie noch immer armer Leute Kind; das kleine Glück als Objekt der Begierde reichte ihr. Der Gedanke an den Neid der Götter, sobald sie an das große dachte, ängstigte sie. Hans im Glück, der sich bei jedem Tausch verschlechtert, den er macht, und der sich trotzdem begnadet wähnt, war einst ihr Lieblingsheld gewesen. Sie hielt ihm ein Leben lang die Treue.
    »Anna ist dumm geboren«, hatte einst die zehnjährige Victoria mit der erbarmungslosen Zunge der unschuldigen Kinder diagnostiziert.
    »Sie ist klüger als du, mein Kind«, hatte ihre Mutter sie aufgeklärt, »aber ich würde mich wundern, wenn du das je begreifen solltest.«
    Nun, mit achtzehn, wünschte sich Anna einen klugen, beredten Ehemann, der gelegentlich auch seine Frau zu Wort kommen ließ. Wie sie sollte er gern Bildungsromane und Reiseberichte lesen, sich an weichen Eiern im Glas delektieren und Freude an Wald und Flur haben. Sonntags sollte dieser
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