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Schischkin, Michail

Schischkin, Michail

Titel: Schischkin, Michail
Autoren: Venushaar
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MICHAIL SCHISCHKIN
     
    VENUSHAAR
     
    Roman
     
    Aus dem
Russischen von Andreas Tretner
     
     
    Und
angerufen wird der Staub und zu ihm gesagt: »Gib zurück, was dir nicht gehört;
offenbare, was du bewahrt für seine Zeit.« Denn durch das Wort ward die Welt
erschaffen, und durch das Wort werden wir einst auferstehen.
    Buch der Offenbarung Baruchs, des Sohnes des Nerija, 4, XLII
     
     
    Dem
Dareios und der Parysatis wurden zwei Söhne geboren, ein älterer, Artaxerxes,
ein jüngerer, Kyros.
     
    Die
Befragungen beginnen morgens um acht. Alle sind noch verschlafen, zerknittert,
mürrisch - die Beamten ebenso wie die Dolmetscher, die Polizisten und die
Asylanten. Die, die erst noch Asylanten werden wollen, genauer gesagt.
Einstweilen sind sie bloß GS. Gesuchsteller. So heißen
diese Menschen hier.
    Der Erste
wird hereingeführt. Vorname. Zuname. Geburtsdatum. Aufgeworfene Lippen. Pickel
überall. Älter als sechzehn, so viel ist klar.
     
    Frage: Führen Sie
kurz die Gründe aus, weshalb Sie um Gewährung von Asyl in der Schweiz bitten.
    Antwort: Mit zehn
kam ich ins Heim. Unser Direktor hat mich vergewaltigt. Ich bin abgehauen. Auf
einem Parkplatz hab ich Trucker getroffen, die über die Grenze fahren. Einer
hat mich rausgeschafft.
    Frage: Warum
haben Sie Ihren Direktor nicht bei der Polizei angezeigt?
    Antwort: Die hätten
mich totgeschlagen.
    Frage: Wer sind
»die«?
    Antwort: Die
stecken doch alle unter einer Decke. Der Direktor hat mich und noch einen
Jungen und zwei Mädchen ins Auto gepackt und auf eine Datscha gefahren. Nicht
seine, die von irgendwem, keine Ahnung. Dort trafen sie sich, die ganzen Chefs,
auch der Polizeichef. Sie haben gesoffen und auch uns Alkohol eingeflößt. Dann
wurden wir auf die Zimmer aufgeteilt. Das Haus war groß.
    Frage: Sind damit
alle Gründe genannt, weshalb Sie um Gewährung von Asyl bitten?
    Antwort: Ja.
    Frage: Beschreiben
Sie Ihren Reiseweg. Aus welchem Land sind Sie in die Schweiz eingereist, und wo
genau?
    Antwort: Das weiß
ich nicht. Ich saß im Truck, hinter Kartons. Ich bekam zwei Plastikflaschen:
eine mit Wasser, eine für den Urin.
    Nur nachts
durfte ich raus. Hier ganz in der Nähe haben sie mich abgesetzt. Ich weiß ja
nicht mal, wie die Stadt heißt. Ich bekam gesagt, wo ich hingehen soll, um mich
zu stellen.
    Frage: Haben Sie
sich in der Vergangenheit politisch oder religiös betätigt?
    Antwort: Nein.
    Frage: Sind Sie
vorbestraft? Wurde gegen Sie ermittelt?
    Antwort: Nein.
    Frage: Haben Sie
schon einmal in einem anderen Land einen Asylantrag gestellt?
    Antwort: Nein.
    Frage: Haben Sie
in der Schweiz eine Rechtsvertretung?
    Antwort: Nein.
    Frage: Stimmen
Sie einer Knochengewebeuntersuchung zur gutachterlichen Feststellung Ihres
Alters zu?
    Antwort: Was?
     
    In der
Pause kann man im Dolmetscheraufenthaltsraum einen Kaffee trinken. Die Fenster
gehen hier auf die Baustelle, wo ein neues Empfangszentrum für Asylsuchende
errichtet wird.
    In
Abständen glüht der weiße Plastikbecher in meinen Händen auf, das ganze Zimmer
erstrahlt im Widerschein der Schweißblitze. Das kommt, weil der Schweißer
direkt vor dem Fenster arbeitet.
    Niemand
sonst ist im Raum, ich kann zehn Minuten ungestört lesen.
    Also: Dem
Dareios und der Parysatis wurden zwei Söhne geboren, ein älterer, Artaxerxes,
ein jüngerer, Kyros. Als Dareios krank war und das Ende seines Lebens
vorausahnte, wollte er beide Söhne in seiner Nähe haben. Der ältere war nun
zufällig anwesend. Kyros aber ließ er aus dem Herrschaftsbereich rufen, zu
dessen Satrapen er ihn gemacht hatte.
    Auch die
Buchseiten flammen auf im Blitzlicht des Schweißens. Das Lesen ist unangenehm -
nach jedem Blitz wird die Seite schwarz.
    Es dringt
selbst durch die geschlossenen Lider.
    Peter
schaut zur Tür herein. Herr Fischer. Der Schicksalslenker. Er zwinkert mir zu
als wolle er sagen: Sollen wir wieder? Und auch er wird angeblitzt wie von
einem Fotoapparat. Prägt sich ein mit einem zugekniffenen Auge.
     
    Frage: Verstehen
Sie den Dolmetscher?
    Antwort: Ja.
    Frage: Wie ist
Ihr Name?
    Antwort:
***.
    Frage: Vorname?
    Antwort:
***.
    Frage: Wie alt
sind Sie?
    Antwort: Sechzehn.
    Frage: Haben Sie
einen Pass oder ein anderes Dokument, das Ihre Identität bezeugt?
    Antwort: Nein.
    Frage: Sie müssen
doch eine Geburtsurkunde haben. Wo ist sie?
    Antwort: Verbrannt.
Alles ist verbrannt. Die haben unser Haus abgefackelt.
    Frage: Wie heißt
Ihr Vater?
    Antwort:
*** ***. Er ist schon lange tot, ich kann mich gar nicht an
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