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Der Kirschbluetenmord

Der Kirschbluetenmord

Titel: Der Kirschbluetenmord
Autoren: Laura Joh Rowland
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wäre nichts geschehen. Sano rief sich ins Gedächtnis, daß Ogyū seit dreißig Jahren als einer der beiden Magistraten Edos diente: Er hatte so viele Urteile gefällt, daß er gegen jegliche Gefühle immun geworden war – Gefühle, die andere Menschen in Gewissensnöte gebracht hätten. Sano verbeugte sich tief und fragte: »Womit kann ich Euch dienen, ehrenwerter Magistrat?«
    Ogyūs fahle, spinnengleiche Hände spielten mit dem Magistratssiegel, einem rechteckigen Stück Alabaster, in das die Schriftzeichen seines Namens und Ranges graviert waren. Sein verhärmtes Gesicht mit den schweren Lidern wirkte im flackernden Licht der Lampen bleich und kränklich, und sein altersfleckiger, kahler Schädel sah aus wie eine faulige Melone.
    »Brandstiftung ist ein schweres Verbrechen«, murmelte Ogyū und betrachtete mit gespielter Besorgnis sein Amtssiegel. Er hielt inne; dann fügte er hinzu: »Aber kein außergewöhnliches.«
    »Ja, ehrenwerter Magistrat«, erwiderte Sano und fragte sich, weshalb Ogyū ihn zu sich bestellt hatte. Bestimmt nicht, um Belanglosigkeiten auszutauschen. Doch wie viele Angehörige der vornehmen, gehobenen Klasse, kam auch Ogyū niemals sofort zum Kern der Sache. Als Sano vor dem Magistraten kniete, kam es ihm so vor, als würde über ihn selbst – oder besser, sein Begriffsvermögen – zu Gericht gesessen.
    Schließlich fuhr Ogyū fort: »Derart wichtige, aber unerquickliche Angelegenheiten sollten am besten den niederen Schichten des Volkes selbst überlassen werden. Außerdem haben die Taten eines einzelnen die unglückselige Eigenschaft, sich negativ auf die Taten anderer auszuwirken.« Ogyū drehte den Kopf zu den Fenstern, die nach Norden wiesen, in Richtung Palast.
    Plötzlich wußte Sano Bescheid: In Edo wimmelte es von Spitzeln und Informanten; sie gehörten zum Netzwerk der Geheimen Dienste, das dem Shōgun half, die uneingeschränkte Macht der Tokugawas über das Land aufrecht zu erhalten. Zweifellos hatte jemand von dem Tag an, da Sano sein Amt angetreten hatte, Ogyū von den Aktivitäten des neuen yoriki berichtet. Dieser Jemand mußte auch in der Zuschauermenge am Ort der Feuersbrunst gewesen sein. Und Ogyū hatte Sano soeben zu verstehen gegeben, daß es eine Schande für die ganze Regierung sei – bis hinauf zum Shōgun –, wenn ein Mann im Range eines yoriki die Arbeit eines dōshin übernahm. Wenngleich Sano seinem Vorgesetzten nicht widersprechen wollte, sah er sich zur Verteidigung gezwungen.
    »Ehrenwerter Magistrat, der dōshin und seine Männer hätten einen Unschuldigen verhaftet, hätte ich sie nicht aufgehalten«, sagte er. »Durch die Zeugenbefragung haben wir eine Beschreibung des wirklichen Brandstifters erhalten, und …«
    Ogyū hob einen Finger, und Sano verstummte. Nie zuvor hatte er eine Geste des Magistraten gesehen, die einem unverhohlenen Tadel so nahe kam. Doch statt über die Nachforschungen bei der Brandstiftung zu reden, wechselte Ogyū das Thema. »Ich hatte gestern die Ehre, von Katsuragawa Shundai zum Tee geladen zu werden.«
    Die Silben des Namens stürzten wie eine Decke aus Eisen auf Sano nieder. Alle weiteren Einwände erstarben ihm auf den Lippen. Katsuragawa Shundai war sein Gönner – jener Mann, der ihm zu seinem Amt verholfen hatte.
    Während der Bürgerkriege im vergangenen Jahrhundert hatte Sanos Urgroßvater, ein Lehnsmann im Dienste des Fürsten Kii, einem Kriegskameraden das Leben gerettet – dem Oberhaupt der Familie Katsuragawa. Das Vermögen der Katsuragawas war gewachsen, während das der Sanos dahingeschmolzen war; doch die Tat auf dem Schlachtfeld hatte unverbrüchliche Bande zwischen beiden Familien geknüpft. Sano konnte sich noch an den Tag erinnern, als sein Vater die alte Schuld eingefordert hatte …
    Der Vater hatte Sano zu Katsuragawa Shundai ins Schatzamt der Stadt mitgenommen. Sie hatten sich in Katsuragawas luxuriöser Schreibstube niedergekniet und von einem Diener zwei Schalen Tee entgegengenommen.
    »Ich habe nicht mehr lange zu leben, Katsuragawa san« , hatte Sanos Vater gesagt. »Deshalb muß ich in einer bestimmten Angelegenheit Eure Hilfe erbitten. Es betrifft meinen Sohn. Ich kann ihm kein Vermögen hinterlassen, und er ist nur ein Lehrer ohne Zukunftsaussichten und ohne besondere Fähigkeiten. Aber mit Eurem Einfluß könntet Ihr gewiß dafür sorgen …?«
    Katsuragawa beantwortete die unausgesprochene Frage nicht sofort. Er zündete sich seine Pfeife an und musterte Sano abschätzend. Schließlich
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