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Der Kirschbluetenmord

Der Kirschbluetenmord

Titel: Der Kirschbluetenmord
Autoren: Laura Joh Rowland
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spöttische Unterton verwandelte die Worte Hayashis in eine Beleidigung.
    Betrübt sah Sano zu, wie die beiden Männer davongingen. Er hatte von Anfang an erkannt, daß es nicht leicht für ihn sein würde, mit diesen beiden yoriki und seinen siebenundvierzig anderen Amtskollegen auszukommen. Denn im Unterschied zu Sano waren sie echte yoriki, die das Amt von ihren Vätern geerbt hatten. Daß ein unqualifizierter Außenseiter so rasch und problemlos in ihr Amt hineinrutschen konnte, war ein Affront gegenüber ihren Familien und ihrem beruflichen Stolz. Die frostige Ablehnung der Amtskollegen verfolgte Sano, als er den langen Flur hinunterging, seine eigenen Amtsstuben betrat und den Mitarbeitern zunickte, die unter seiner Aufsicht arbeiteten.
    Als Sano die Tür aufschob, die in seine private Schreibstube führte, erwartete ihn dort eine weitere Quelle der Unzufriedenheit. Hamada Tsunehiko, sein sechzehnjähriger Privatsekretär und Schreiber, lümmelte sich auf den Matten in der Nähe des Kohlebeckens, mit dem das Zimmer beheizt wurde, und blätterte in einem bebilderten Geschichtenbuch. Die Berichte, die Sano dem jungen Burschen gegeben hatte, lagen unangetastet auf dem Schreibpult. Tsunehikos fetter, unförmiger Leib spannte die Nähte seines schwarzen Baumwollkimonos mit dem weißen Spiralmuster und dem Saum mit den roten Karos bis zum Zerreißen. Mit seinem kahl rasierten Scheitel ähnelte Tsunehiko eher einem riesigen Kleinkind als einem jungen Mann aus einer Samurai-Familie.
    Als Tsunehiko seinen Vorgesetzten erblickte, legte sich ein beinahe lächerlicher Ausdruck des Entsetzens auf sein rundes, feistes Gesicht.
    »Yoriki Sano -san! « rief er. »Ihr seid wieder da!« Hastig rappelte er sich auf und verbeugte sich, nach dem er das Buch rasch hinter dem Rücken versteckt hatte. »Ich erwarte Eure Befehle!«
    Sano blickte Tsunehiko mit einer Mischung aus Zorn, Mitleid und Zuneigung an. Der Vater des jungen Mannes war ein mächtiger Bürokrat, der Ogyū dazu bewegt hatte, seinem trägen, nicht sonderlich aufgeweckten Sohn eine Anstellung im Regierungsdienst zu verschaffen. Ogyū hatte Tsunehiko die Stelle eines Schreibers gegeben und ihn Sano zugeteilt. Bisher hatte der junge Mann sich als faul und obendrein unfähig erwiesen, selbst die einfachsten Arbeiten beim ersten Versuch zu bewältigen. Außerdem schnaufte er laut und schwer durch seine chronisch verstopften Nasenlöcher; ein zusätzliches Ärgernis für Sano. Dennoch mochte er den jungen Burschen. Tsunehiko war fröhlich und gutmütig – und er war hier genauso fehl am Platze, wie Sano sich fühlte.
    »Schon gut, Tsunehiko«, sagte er. »Nimm bitte einen Bericht auf.« Sano kniete sich vor sein Schreibpult, während Tsunehiko Papier und Schreibzeug aus einem Schrank holte. Nachdem der junge Mann das Tuschefäßchen bereitgestellt und an seinem eigenen, kleinen Schreibpult Platz genommen hatte, begann Sano: »Sechzehnter Tag des zwölften Monats im Jahre eins der Genroku«, diktierte er. »Betrifft: Doppelselbstmord des Künstlers Noriyoshi und der Niu Yukiko, Tochter des Fürsten …«
    Sano hielt inne, als Tsunehiko ein verzweifeltes Schnaufen ausstieß, nachdem er die Namen niedergeschrieben hatte. Dann zerknüllte er den Bogen Reispapier. Offenbar hatte er schon wieder einen Fehler gemacht: Tsunehikos Fähigkeiten auf dem Gebiet der Kalligraphie und beim Aufnehmen von Diktaten waren äußerst beschränkt. Sano hätte die Berichte lieber selbst geschrieben, doch er mußte den Regeln gehorchen, selbst wenn es um so banale Dinge wie die Beschäftigung eines unfähigen Schreibers ging, den man ihm zugeteilt hatte. Wenngleich Sano auf Befehl des Magistraten Ogyū diesen Bericht verfassen mußte, hätte es sich nicht gehört, Tsunehiko die Arbeit abzunehmen. Außerdem wollte er die Gefühle des Jungen nicht verletzen. Er wartete, bis Tsunehiko ein neues Blatt Papier aus dem Schrank genommen hatte. Dann verfaßten sie – sorgsam und in aller Ruhe – gemeinsam den Bericht, begleitet von Tsunehikos angestrengtem Schnaufen. Sano überflog die vierte und letzte Fassung, entdeckte zu seiner Erleichterung keinen Fehler und versah das Schriftstück mit seinem Siegel.
    »Bringe den Bericht zum Obersekretär und sorge dafür, daß er die Anweisungen an alle zuständigen Abteilungen weiterleitet«, sagte er zu Tsunehiko.
    »Jawohl, yoriki Sano -san !« Tsunehiko nahm den Bericht entgegen, rollte das Blatt Papier zusammen und verschnürte die Rolle mit einem Band aus
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