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Der Kirschbluetenmord

Der Kirschbluetenmord

Titel: Der Kirschbluetenmord
Autoren: Laura Joh Rowland
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sagte er: »Ich werde sehen, was ich tun kann.«
    Sano hielt den Blick gesenkt und starrte auf die Teeschüssel. Er hoffte, daß Katsuragawa nichts für ihn tun würde, denn er wußte, daß die Gehorsamspflicht dem Vater gegenüber verlangte, jedes Angebot Katsuragawas anzunehmen. Doch Sano konnte sich nicht mit dem Gedanken abfinden, von Katsuragawas Macht und Einfluß zu profitieren. Heutzutage, in Friedenszeiten, konnten Samurai mit dem Schwert weder Ruhm ernten noch ihren Lebensunterhalt verdienen. Ihre Hoffnung auf Erfolg gründete sich vielmehr darauf, ein Amt in der Regierungsbürokratie zu erlangen, was durch die Verbindung familiärer Beziehungen und persönlicher Fähigkeiten am ehesten möglich war. Doch Sano war der Gedanke zuwider, seinen geliebten Beruf für eine Anstellung aufgeben zu müssen, die so wenig zu ihm paßte wie er zu ihr.
    Ogyūs Stimme riß ihn in die Gegenwart zurück. »Ich hoffe, wir haben uns verstanden.«
    »Ja, ehrenwerter Magistrat«, sagte Sano bedrückt. Ogyū hatte ihn an seine Verpflichtungen gegenüber dem Vater und Katsuragawa Shundai erinnert. Um diese Verpflichtungen zu erfüllen, hatte Sano eingewilligt, das Amt des yoriki anzunehmen, nachdem Ogyū, Katsuragawas Bitte entsprechend, ihm diese Stelle angeboten hatte. Dies aber ließ Sano keinen Freiraum mehr für Diskussionen, eigenständiges Handeln oder ungezwungenes Auftreten. Pflicht, Treue und Gehorsam waren die obersten Prinzipien des bushidō – des »Wegs des Kriegers« –, jenes strengen Kodex, der das Verhalten eines Samurai bestimmte. Seine Ehre, die höchste und bedeutendste aller Tugenden, verlangte das bedingungslose Festhalten an diesem Kodex. Und die Militärregierung, der Sano diente, schätzte Fügsamkeit und Gehorsam höher ein als die Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit, die ihr ohnehin als dehnbare Begriffe galten. Sano mußte sich auf Kosten der eigenen Wünsche und Vorstellungen denen seiner Vorgesetzten beugen. Und er fühlte sich durch Ogyūs unausgesprochene Kritik zutiefst beschämt. Nie wieder würde er das Verwaltungsviertel verlassen, um vor Ort Nachforschungen über jene Fälle anzustellen, die über sein Schreibpult gingen. Von nun an würden diese Fälle für Sano lediglich Schriftzeichen auf Papier sein. Noch einmal verbeugte er sich – in der Erwartung, von Ogyū entlassen zu werden.
    Doch der Magistrat hatte noch etwas vorzubringen. »Mir ist da eine Sache zu Ohren gekommen«, sagte er, »die mit äußerster Diskretion behandelt werden muß. Ihr werdet genau das tun, was ich Euch jetzt sage.«
    Ogyūs ungewohnte Direktheit erregte Sanos Neugier.
    »Heute morgen hat ein Fischer zwei Leichen aus dem Fluß gezogen, einen Mann und eine Frau«, fuhr Ogyū fort. Sein kleiner Mund verzog sich vor Abscheu. »Ein shinjū. «
    Sanos Neugierde wuchs. Doppelselbstmorde aus Liebe waren beinahe so alltäglich – und sicherlich nicht minder verabscheuungswürdig – wie die Brandstiftung, deren Aufklärung Sano auf Befehl des Magistraten nunmehr dem dōshin überlassen mußte. Liebende, denen aufgrund familiärer Widerstände die Ehe verwehrt wurde, wählten häufig den gemeinsamen Freitod, in der Hoffnung, im buddhistischen Paradies auf ewig vereint zu sein. Doch weshalb verlangte Ogyū, daß er sich mit einem unbedeutenden shinjū befaßte?
    Der Magistrat gab die Antwort auf Sanos unausgesprochene Frage. »Das hier wurde am Körper der Frau gefunden«, sagte er, nahm einen zusammengefalteten Brief aus seinem Schreibpult und hielt ihn Sano hin.
    Sano erhob sich, schritt über den shirasu hinweg und nahm das Schreiben entgegen. Das dünne Reispapier knisterte in seinen Händen, als er den Brief entfaltete und die Schriftzeichen las, die von zarter weiblicher Hand mit Tusche geschrieben waren.
     
    Ein Lebewohl dieser Welt, ein Lebewohl dem Tag
    Wir gehen die Straße, die zu den Toten führt –
    Womit kann man dies vergleichen?
    Am Weg, der zum Friedhof weist, ein Kirschzweig,
    Der niemals erblüht, weil der Frühling nicht kommt:
    Wie traurig ist dieser Traum eines Traumes!
     
    Noriyoshi (Künstler)
    Niu Yukiko
    Sano erkannte die Verse wieder: Sie stammten aus einem volkstümlichen Kabuki-Schauspiel, das von einem todgeweihten Liebespaar handelte. Es war ihr letztes Lied, bevor sie in den Tod gingen. Jetzt wußte Sano auch, weshalb Ogyū von ihm verlangte, die Sache diskret zu behandeln. Der Mann, Noriyoshi, war ein gemeiner Bürger, wie das Fehlen des Nachnamens und der Hinweis auf seinen Beruf
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