Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Kirschbluetenmord

Der Kirschbluetenmord

Titel: Der Kirschbluetenmord
Autoren: Laura Joh Rowland
Vom Netzwerk:
Ausbruch des Brandes haben die Anwohner einen Mann aus der Straße flüchten sehen, yoriki Sano -san. Außerdem ist der Kerl geständig.«
    Sano ging an den Helfern des dōshin vorüber zu dem am Boden liegenden Mann. »Ihr braucht keine Angst mehr zu haben«, sagte er mit ruhiger Stimme. »Steht auf!«
    Schwerfällig drehte der Mann sich auf die Seite, krümmte die Hüfte und erhob sich auf die Knie. Auf den Fersen sitzend, wischte er sich den Schlamm aus dem Gesicht. Dann öffnete er zu Sanos Erstaunen den Mund zu einem breiten, zahnlosen Lächeln.
    »Ja, Herr.« Er nickte, und seine Augen funkelten. Trotz der Falten, die seine Wangen und die Stirn fürchten, sah er so unschuldig aus wie ein Kind.
    »Wie heißt Ihr?« fragte Sano.
    »Ja, Herr.«
    Sano stellte die Frage noch einmal. Als er wieder die gleiche Antwort bekam, versuchte er es auf andere Weise. »Wo wohnt Ihr?«
    »Ja, Herr.«
    »Habt Ihr das Feuer gelegt?« Sano wurde allmählich klar, wen er vor sich hatte.
    »Ja, Herr! Ja, Herr!« Als der Mann sah, wie Sanos Miene sich verdüsterte, schwand sein Lächeln. Mühsam erhob er sich, fiel aber wieder zu Boden, als die Helfer des dōshin ihn erneut umringten. »Nicht mehr schlagen, Herr!« flehte er.
    »Niemand wird dir ein Leid tun.« Wutentbrannt fuhr Sano zum dōshin herum. »Dieser Mann ist nicht bei Verstand. Er weiß nicht, was er sagt, und er kann Eure Fragen nicht begreifen. Sein Geständnis ist nichts wert.«
    Das Gesicht des dōshin rötete sich. Er spannte die Schultern und schüttelte die jitte in der geballten Faust. »Ich habe den Mann gefragt, ob er das Feuer gelegt hat. Er hat es zugegeben. Woher sollte ich wissen, daß er schwachsinnig ist?«
    Eine Stimme aus der wachsenden Menge der Zuschauer rief: »Hättest du dir Zeit genommen, mit ihm zu reden, hättest du’s bemerkt!« Und jemand anders rief: »Er ist bloß ein harmloser alter Bettler!« Zustimmendes Gemurmel erhob sich.
    »Seid still!« Der dōshin fuhr zu der Menge herum, und das Murmeln verstummte. Dann wandte er sich wieder an Sano. »Brandstiftung ist ein schweres Verbrechen«, sagte er mit erzwungener Ruhe und einem gerüttelt Maß an Selbstgerechtigkeit. »Jemand muß dafür büßen.«
    Für einen Augenblick war Sano versucht, die Stimme zu erheben. Diesem Polizisten – und vielen anderen, falls die Gerüchte der Wahrheit entsprachen – war es offenbar wichtiger, einen Sündenbock zu finden, als die Wahrheit aufzudecken. Zu gern hätte Sano diesen Mann, der seine Pflichten vernachlässigte, scharf zurechtgewiesen. Dann sah er, wie die freie Hand des dōshin sich zum Schwertgriff bewegte. Sano wußte, daß nur sein Rang den Mann davon abhielt, ihn auf der Stelle zu fordern. Er, der yoriki, hatte den dōshin das Gesicht verlieren lassen, vor seinen eigenen Leuten und den Bewohnern des Viertels. Gleich am ersten Tag auf den Straßen Edos hatte Sano sich einen Feind gemacht.
    Um Frieden zu stiften, sagte er versöhnlich: »Dann müssen wir den wirklichen Brandstifter finden. Ihr, Eure Männer und ich werden die Zeugen befragen.«
    Sano beobachtete, wie der dōshin und dessen Leute davongingen, um sich unter die Menge der Gaffer zu mischen. Ein seltsames Hochgefühl überkam Sano. Er hatte eine Ungerechtigkeit verhindert und wahrscheinlich zudem einem Mann das Leben gerettet. Zum ersten Mal erkannte er, daß auch das Amt des yoriki Möglichkeiten bot, die Wahrheit zu finden – und Lohn einbrachte, wenn man diese Wahrheit gefunden hatte. Vielleicht größeren Lohn, als einem Gelehrten zuteil wurde, der sich mit alten Schriften beschäftigte. Doch Sano fragte sich besorgt, wie viele Feinde er sich noch machen würde.
     
    Als er ins Verwaltungsviertel von Hibiya, im Südosten des Palasts von Edo, zurückkehrte, war es früher Nachmittag. In Hibiya befanden sich die Villen der hohen städtischen Beamten; sie dienten als Wohnhäuser und Verwaltungsgebäude zugleich. Botengänger kamen mit Dokumentenrollen an Sano vorbei, als er über die schmalen Straßen ritt, zwischen den Lehmmauern hindurch, hinter denen die Fachwerkhäuser mit ihren Ziegeldächern standen.
    Amtsträger in weiten Seidengewändern schlenderten zu zweit oder in Gruppen umher; Bruchstücke von Gesprächen, die sich um Regierungsangelegenheiten oder den neuesten politischen Klatsch drehten, drangen an Sanos Ohren. Dienstboten eilten durch die Tore der Villen, Servierbretter mit Tee und Speisen in den Händen. Beim Gedanken an diese Leckerbissen bedauerte Sano, auf dem
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher