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Der fingerkleine Kobold

Der fingerkleine Kobold

Titel: Der fingerkleine Kobold
Autoren: EDITION digital Verlag
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Der fingerkleine Kobold
ALS ERSTES: IRGEND ETWAS STIMMT NICHT
    An einem Montagabend im April sagte Frau Rose: „Irgendetwas
stimmt mit Christoph nicht."
    Sie sagte es vor dem Fernsehapparat, und sie sagte es
eigentlich auch zu dem Fernsehapparat, denn Herr Rose, Christophs Vater, war
eingeschlafen. Im Sessel. Vor dem Fernseher.
    Vielleicht hatte er nicht sehr fest geschlafen, denn als
Frau Rose den Satz gesagt hatte, hob er plötzlich den Kopf, rieb sich die Augen
und murmelte: „Hä? Hä? Hä?“
    Christophs Vater sagte immer alle kurzen Wörter dreimal,
damit sie sich länger anhörten.
    Nun musste Frau Rose den Satz wiederholen. Christophs Vater
fragte: „Wieso?", und gähnte.
    Christophs Mutter sagte: „Er träumt mit offenen Augen, seine
Zensuren werden immer schlechter, und ich glaube, er lügt manchmal."
    Christophs Vater sagte ganz schnell hintereinander: „So? So?
So?" Dann schlief er wieder ein.
    Die Mutter seufzte. Sie war auch sehr müde. Sie hatte heute
viele Stunden in der Bücherei gestanden. Christophs Mutter war Bibliothekarin
in einem sehr großen Betrieb. Der Betrieb war so groß wie eine kleine Stadt,
und es wurden in ihm Tuche hergestellt, bunte und einfarbige, dicke und dünne.
Der Betrieb hatte noch Schwesterbetriebe in anderen Städten, zusammen waren sie
eine Familie, die man Kombinat nannte. Der Direktor des Kombinats hieß Herr
Rose und war Christophs Vater.
    „Vati muss doch den ganzen Betrieb im Kopf haben",
sagte Frau Rose manchmal zu Christoph, wenn der sich beklagte, sein Vati habe
nie und nie ein bisschen Zeit für ihn. Aber Christoph glaubte nicht, dass sein Vater
den ganzen Betrieb im Kopf hatte. Er wusste genau, wie der Betrieb aussah, wie
unglaublich groß er war. Und er kannte Vatis Kopf. Sie muss sich bessere
Ausreden überlegen, dachte er.
    Nachdem Frau Rose geseufzt hatte, stand sie auf und drehte
den Knopf des Fernsehers nach links. Da wurde es ruhig im Zimmer, und man
konnte hören, wie Herr Rose schnarchte. Frau Rose stieß ihn an und sagte: „Komm
schlafen." Sie sagte nicht noch einmal: Irgendetwas stimmt mit Christoph
nicht. Sie nahm sich vor, am nächsten Tag mit Christophs Lehrerin zu sprechen.
    Christophs Lehrerin, Frau Becker, dachte an diesem Abend
auch an Christoph. Das kam dadurch, dass sie vor dem Fernseher saß und mit
einem Auge auf den Film, mit dem anderen auf Christophs Mathematikarbeit
starrte. In Christophs Arbeitsheft sah es ziemlich rot aus. Frau Becker schrieb
eine rote Vier unter die Arbeit. Dann seufzte sie, vielleicht zur gleichen Zeit
wie Christophs Mutter, aber drei Straßenbahnhaltestellen entfernt und drei
Treppen höher. Sie murmelte vor sich hin: „Was war das in der ersten Klasse für
ein guter Schüler!"
    Das stimmte. Christoph hatte in der ersten Klasse nicht eine
einzige Vier bekommen. Mit den Dreien freundete er sich auch erst in der
zweiten Klasse an. Waren in der dritten Klasse nun die Vieren an der Reihe?

ALS ZWEITES: SO GEHT DAS NICHT WEITER
    „Ist er denn in gar keinem Fach mehr gut?". fragte Frau
Rose erschrocken. Sie stand mit Frau Becker im leeren Klassenzimmer, es war
große Pause. Das war am Dienstag. Neun Uhr.
    „Doch", sagte Frau Becker, „im Lesen und im
Nacherzählen, vor allem, wenn es sich um Märchen handelt, ist er der
Allerbeste! Er kennt ja so viele Märchen wie kein anderes Kind. Ehrlich gesagt
— mehr als ich selbst! Aber bei allen anderen Sachen, da träumt er nur, er vergisst
auch oft seine Hausaufgaben, und er hat immer Ausreden, ich glaube, er
schwindelt manchmal."
    „Ja", sagte Frau Rose, „ich habe das auch schon
bemerkt. Ich habe so wenig Zeit für ihn. Und mein Mann — der hat überhaupt
keine Zeit, der hat diesen großen Betrieb im Kopf, nicht wahr!"
    Frau Becker wunderte sich gar nicht darüber, dass in Herrn
Roses Kopf so ein Betrieb Platz hatte. „Christoph liest zu viele Märchen",
sagte Frau Becker, „Sie müssen da einen Riegel vorschieben, Frau Rose, so geht
das nicht weiter."
    „So geht das nicht weiter!", sagte Frau Rose zu Herrn
Rose.
    Das war am Dienstagabend. Zwanzig Uhr.
    Herr Rose ließ sich alles genau erzählen. „Nanu, er
schwindelt?", wunderte er sich. „Ich denke, er hat sogar zu seiner
Lehrerin gesagt, die Schule sei ihm zu laut und zu langweilig? Ist das nicht
ein Zeichen für allergrößte, für unvernünftig große Ehrlichkeit?“
    „Aber das war doch schon in der ersten Klasse", sagte
Frau Rose. „Und er hat einen Eintrag dafür bekommen. Und du hast ihm gesagt,
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