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Der Kirschbluetenmord

Der Kirschbluetenmord

Titel: Der Kirschbluetenmord
Autoren: Laura Joh Rowland
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Rückweg an einem Verkaufsstand fette Nudeln gegessen zu haben. Doch die Nachforschungen über die Feuersbrunst hatten länger gedauert als erwartet, und die hastige, wenig schmackhafte Mahlzeit hatte es Sano immerhin ermöglicht, sich ohne weiteren Aufschub seinen anderen Pflichten zuzuwenden. Er bog um eine Gebäudeecke und hielt auf die Polizeizentrale zu.
    »Yoriki Sano -san! « Atemlos kam ein Bote zu ihm gerannt und verbeugte sich flüchtig. »Verzeiht, Herr. Magistrat Ogyū möchte Euch sofort sprechen. Im Gerichtssaal, Herr.« Fragend hob der Mann den Blick, wartete auf Sanos Antwort.
    »Ist gut. Du kannst gehen.«
    Einer Vorladung des Magistraten mußte man unverzüglich Folge leisten. Sano zog sein Pferd herum und schlug eine andere Richtung ein.
    Die Villa des Magistraten Ogyū gehörte zu den größten im Verwaltungsviertel. An den überdachten Portalen des Tores wies Sano sich bei zwei bewaffneten Posten aus, die Brustharnische und Helme aus Leder trugen. Er ließ sein Pferd bei den Wächtern zurück; dann betrat er das Grundstück und ging zwischen kleinen Gruppen von Stadtbewohnern hindurch, die sich auf dem Hof versammelt hatten. Einige warteten darauf, dem Magistraten ihre Streitigkeiten vorzutragen; andere, deren Hände gefesselt waren und die von dōshin bewacht wurden, warteten offensichtlich auf ihre Verhandlung.
    Im Haupteingang des langen, niedrigen Gebäudes blieb Sano stehen. Vor den Fenstern befanden sich schlichte Holzgitter. Die vorstehenden Dachvorsprünge warfen tiefe Schatten auf die Veranda. Bei seinem ersten Besuch in der Villa Ogyūs hatte Sano deren düstere, bedrückende Atmosphäre irgendwie als symbolisch für die oft harten Urteile betrachtet, die im Innern dieses Gebäudes verkündet wurden. Der Garten, der die Villa umgab, erinnerte Sano an einen Friedhof: unbeleuchtete steinerne Laternen, winterkahle Bäume. Er schüttelte diese Eindrücke ab und stieg die Holztreppe zum Eingang hinauf. Ein Nicken der beiden Wachen, die dort auf Posten standen, und Sano öffnete die schwere, mit Schnitzereien verzierte Tür.
    »Hufschmied Gorō.« Magistrat Ogyūs Stimme hallte durch den langen Gerichtssaal, als Sano im Türeingang innehielt. »Was die Anklage betrifft, die gegen dich erhoben wird, habe ich alle Beweise erwogen, die mir vorgetragen wurden.«
    Sano wartete im hinteren Teil der Halle bei den Samurai, die als Ordner im Gerichtssaal dienten. Am anderen Ende kniete Magistrat Ogyū auf einem Podium. Er war ein alter, dünner Mann mit hängenden Schultern und wirkte in seinen großen, roten und schwarzen Seidenroben geradezu winzig. Im Licht der Lampen zu beiden Seiten seines schwarz lackierten Schreibpults sah er aus wie eine Figur auf einer Bühne. Bis auf das Podest, auf dem Ogyū saß, lag der Raum im Halbdunkel; das Sonnenlicht, das trübe durch die mit Seidenpapier bespannten Fenster fiel, war die einzige andere Lichtquelle. Unmittelbar vor dem Podest befand sich der shirasu, ein rechteckiges Stück Fußboden, das mit weißem Sand bedeckt war, dem Sinnbild der Wahrheit. Dort kniete der Angeklagte auf einer Matte, an Hand- und Fußgelenken gefesselt. Zwei dōshin knieten zu beiden Seiten des shirasu. Eine kleine Zuschauermenge – die Zeugen, die Familie des Angeklagten und der Vorsteher seines Wohnbezirks – bildete eine lange Reihe, die sich bis in den hinteren Teil der Halle erstreckte.
    »Die Beweise lassen ohne jeden Zweifel erkennen, daß du des Mordes an deinem Schwiegervater schuldig bist«, fuhr Ogyū fort.
    »Nein!« brach es wie ein Verzweiflungsschrei aus dem Beschuldigten hervor. Er wand sich auf der Matte und zerrte an den Fesseln.
    Einige Zuschauer schrien laut auf. Eine Frau brach weinend zusammen.
    Ogyū hob die Stimme, so daß sie den Lärm übertönte. »Ich verurteile dich zum Tode«, sagte er. »Deine Familie wird aus der Provinz verbannt, auf daß sie deine Schande teilen möge.« Er nickte einem der dōshin zu, worauf dieser aufsprang und den schreienden, wild an den Fesseln zerrenden Gefangenen durch eine Hintertür schleppte. Die Aufseher eilten nach vorn und führten die Zuschauer aus dem Saal; einer zerrte die weinende Frau am Ellbogen hinaus. Dann rief Ogyū: »Sano Ichirō. Tretet vor.«
    Sano ging in den vorderen Teil des Gerichtssaals und kniete hinter dem shirasu nieder. Er war ein wenig schockiert: Ogyū hatte soeben einen Mann zum Tode verurteilt und seine Familie in die Verbannung geschickt, doch er machte einen so gelassenen Eindruck, als
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