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Der Kirschbluetenmord

Der Kirschbluetenmord

Titel: Der Kirschbluetenmord
Autoren: Laura Joh Rowland
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Rechten, erstrahlten Lichtpunkte aus dem dunklen Land, das sanft zu den Hügeln anstieg: Es waren Laternen, die das Vergnügungsviertel Yoshiwara erleuchteten, und Fackeln in den Tempelgärten von Asakusa. Vom sumpfigen Honjo, das an der fernen Küste im Osten lag, war nichts zu sehen. Und anders als im Sommer zierten keine farbenfrohen Ausflugsschiffe die Szenerie. Heute hatte der Mann den Fluß für sich allein. Beinahe genoß er die Einsamkeit und die gespenstische Schönheit der Nacht.
    Doch bald wurden seine Arme müde, und sein Atem ging in kurzen, keuchenden Stößen. Schweiß tränkte seine Kleidung, so daß der bitterkalte Wind sie durchdringen konnte. Der Mann verspürte den sehnlichen Wunsch, das Boot einfach in der Strömung treiben zu lassen, zur Bucht von Edo und zum Meer. Nur die zwingende Notwendigkeit zur Eile verlieh ihm die Kraft durchzuhalten. Ihm blieben nur noch wenige Stunden bis zum Anbruch der Dämmerung, und er brauchte den Schutz der Dunkelheit. Wenn er die Reise doch zu Lande hätte machen können, auf dem Pferderücken! Aber die vielen bewachten Tore Edos wurden vor Mitternacht geschlossen; jeder Teil der Stadt wurde abgeriegelt, und man durfte weder hinein noch hinaus. Der einzige Weg war der Fluß.
    Der Mann war unendlich erleichtert, als sich voraus allmählich der vertraute Anblick der Stadt aus dem Dämmerlicht und den Nebeln schälte. Zuerst sah er die Gartenhäuser der Daimyō, der mächtigen Feudalherren, denen nicht nur ein Großteil des Landes am Oberlauf des Flusses gehörte, sondern der größte Teil Japans. Dann erhoben sich die weiß getünchten Reis-Lagerhäuser der Stadt aus der Dunkelheit. An den Anlegestellen und Kais lagen ungezählte Schiffe vertäut, deren Bug zur Mitte des Flusses wies; dessen Wasser war inzwischen trüb geworden und stank nach Fisch und Abfällen, die hier Tag für Tag über Bord geworfen wurden. Schließlich wölbte sich die Ryōgoku-Brücke vor dem Mann auf; die kunstvoll ineinandergefügten Pfeiler und Streben der Holzkonstruktion bildeten ein komplexes Muster vor dem Hintergrund des Nachthimmels.
    Erschöpft lenkte der Mann das Boot ans Ende einer Anlegestelle, die sich stromabwärts, jedoch immer noch in Sichtweite der Brücke befand. Er stellte das Paddel zur Seite und vertäute das Boot an einem Pfahl. Erneut stieg Furcht in ihm auf; diesmal stärker als zuvor: Hinter den tristen Fassaden der Lagerhäuser lag die ganze riesige Stadt Edo. Der Mann konnte die Millionen von Seelen spüren, die dort lebten. Sie schliefen nicht, sondern beobachteten ihn. Er kämpfte die aufsteigende Panik nieder und kniete sich vor dem Bündel zu Boden. Behutsam, um das Boot nicht zum Schwanken zu bringen, wickelte er das steife Strohgeflecht ab. Ein Blick zum Himmel zeigte ihm, daß der Mond untergegangen war; die einsetzende Morgendämmerung tauchte den östlichen Horizont bereits in zartrosa Licht. Der Mann konnte schon die Anlegestellen vor den Holzlagern von Fukagawa auf dem gegenüber liegenden Ufer ausmachen.
    Er kämpfte das Verlangen nieder, die letzte Reisstrohmatte hastig herunterzuzerren; statt dessen wickelte er sie vorsichtig ab.
    Die zwei Leichen, im Tod durch Stricke vereint, die um ihre Fuß- und Handgelenke gebunden waren, lagen vor ihm; ihre Gesichter waren einander zugewandt, Wange an Wange. Der Mann trug einen kurzen Kimono und die Baumwollhose eines gemeinen Bürgers. Er hatte ein nichtssagendes, derbes Gesicht und kurzgeschorenes Haar. Die verquollenen Augen und der sinnliche Mund kündeten von einem Leben voller Ausschweifungen, Fleischeslust und Habsucht. Dieser Mann hatte den Tod verdient. Wie leicht es doch gewesen war, ihn mit dem Versprechen auf Reichtümer ins Verderben zu locken!
    Aber die Frau …
    Ihr unschuldiges junges Gesicht, das mit Schminke aus Reismehl bedeckt war, schimmerte in einem beinahe durchscheinenden Weiß. Die dünnen dunklen Striche, die über ihre rasierten Brauen gezogen waren, bildeten schön geschwungene Bögen über den geschlossenen, mandelförmigen Augen mit den langen Wimpern. Die Lippen waren leicht geöffnet und gewährten den Blick auf zwei makellose Schneidezähne, mit Tusche geschwärzt, wie es bei Damen von hoher Geburt in Mode war. Sie schimmerten wie zwei schwarze Perlen. Das lange schwarze Haar reichte ihr fast bis zu den Füßen; in sanften Wogen fiel es über einen Kimono aus Seide, der mit seinem Muster von zarten Kirschblüten ihren schlanken Körper umhüllte.
    Seufzend dachte der Mann daran,
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