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Der kalte Hauch der Angst

Der kalte Hauch der Angst

Titel: Der kalte Hauch der Angst
Autoren: Pierre Lemaitre
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setzt sich dann ganz nach hinten und starrt hektisch den Kellner an, der auf sie zukommt. Rasch lässt sie ihren Blick durch den Raum schweifen, um zu sehen, auf welchem Weg sie zum Ausgang stürzen könnte, wenn … Aber nichts geschieht. Der Kellner stellt keine Fragen, er sieht sie lediglich unverwandt an. Sie bestellt Kaffee. Der Kellner geht mit müdem Schritt zur Theke zurück.
    Ja, erst muss sie sich im Raum verankern.
    Rue du Temple. Sie ist … mal sehen, drei, nein, vier Metrostationen von zu Hause entfernt. Ja, vier Stationen: Temple, République, umsteigen und dann … Wie heißt die vierte Haltestelle? Meine Güte! Sie steigt dort jeden Tag aus, hundertmal ist sie mit dieser Linie gefahren. Sie sieht den Metroeingang deutlich vor sich, die Treppe mit dem Eisengeländer, den Zeitungskiosk gleich an der Ecke mit dem Mann, der immer sagt: »So ein Sauwetter, was? Mist!«
    Der Kellner bringt ihren Kaffee und legt den Bon daneben: ein Euro zehn. Hab ich Geld? Ihre Handtasche hat sie vor sich auf den Tisch gelegt. Sie war sich nicht mal bewusst, dass sie sie dabeihatte.
    Sie handelt ohne Erinnerung, automatisch, mit leerem Kopf, ohne sich des Geringsten bewusst zu sein. So ist alles passiert. Deshalb ist sie geflohen.
    Sich konzentrieren. Wie heißt noch mal diese blöde Metrostation? Wie ist sie hierhergekommen?… Ihre Tasche, ihre Uhr … Irgendetwas agiert in ihr. Als sei sie zwei Personen. Ich bin zwei: die eine, die vor Angst zitternd vor ihrem kaltwerdenden Kaffee sitzt, und die andere, die geht, ihre Tasche nimmt, ihre Uhr vergisst und nun nach Hause zurückkehrt, als sei überhaupt nichts geschehen.
    Sie drückt beide Hände an ihre Schläfen und spürt die Tränen aufsteigen. Der Kellner blickt sie an, während er mit scheinbar unbeteiligter Miene Gläser abtrocknet. Ich bin verrückt, und das sieht man … Ich muss gehen. Aufstehen und gehen.
    Ein plötzlicher Adrenalinschub durchfährt sie: Wenn ich verrückt bin, dann sind vielleicht auch all diese Bilder nicht real. Vielleicht ist alles nur ein Alptraum in wachem Zustand. Sie ist nicht bei sich. Ja, ein Alptraum, nichts weiter. Sie hat geträumt, ein Kind getötet zu haben. Am Morgen hat sie es dann mit der Angst zu tun bekommen und ist geflohen …? Ja, ich habe lediglich Angst vor meinem eigenen Traum bekommen.
    Bonne-Nouvelle! Genau. Ja, so heißt die Metrostation, Bonne-Nouvelle! Nein, davor ist noch eine andere. Aber diesmal fällt es ihr ganz von selbst ein: Strasbourg-Saint-Denis.
    Ihre Station ist Bonne-Nouvelle. Da ist sie sich sicher, nun kann sie die Haltestelle deutlich vor sich sehen.
    Der Kellner schaut sie so komisch an. Sie hat laut aufgelacht. Erst weint sie, und dann lacht sie schallend.
    Ist das denn alles auch wirklich real? Das müsste man wissen. Um ein reines Gewissen zu haben. Anrufen. Welchen Tag haben wir? Freitag … Léo ist nicht in der Schule. Er ist zu Hause. Léo muss zu Hause sein.
    Allein.
    Ich bin abgehauen, und das Kind ist allein.
    Ich muss anrufen.
    Sie nimmt ihre Tasche, reißt sie regelrecht auf. Sie wühltdarin. Die Telefonnummer ist gespeichert. Sie wischt sich über die Augen, um die Nummern auf dem Display durchlaufen zu sehen. Es klingelt. Einmal, zweimal, dreimal … Es klingelt, und niemand geht ran. Léo hat keine Schule, er ist allein in der Wohnung, es klingelt, und keiner nimmt ab … Wieder läuft der Schweiß, diesmal über den Rücken. »Mist, geh schon ran!« Automatisch zählt sie weiter das Klingeln, viermal, fünfmal, sechsmal. Ein Klicken, dann Stille und schließlich eine Stimme, mit der sie nicht gerechnet hat: »Bonjour, dies ist der Anschluss von Christine und Alain Gervais …« Diese ruhige, feste Stimme lässt sie bis ins Mark erstarren. Worauf wartet sie noch, um endlich aufzulegen? Jedes Wort drückt sie auf ihren Stuhl nieder. »… im Moment sind wir nicht zu Hause … « Sophie drückt mit aller Kraft auf die Aus-Taste des Handys.
    Es ist verrückt, dass es sie eine solche Anstrengung kostet, zwei grundlegende Gedanken aneinanderzureihen. Analysieren. Verstehen. Léo weiß genau, wie man ans Telefon geht, es ist sogar immer ein Fest für ihn, wenn er einem zuvorkommt, abnimmt, antwortet, fragt, wer da spricht. Wenn Léo zu Hause ist, müsste er antworten,
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