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Der kalte Hauch der Angst

Der kalte Hauch der Angst

Titel: Der kalte Hauch der Angst
Autoren: Pierre Lemaitre
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das Telefon wieder zu klingeln anfängt, bevor Léos besorgte Mutter mit dem Taxi kommt, schreiend, heulend, mit Polizei, Fragen, Verhören.
    Sophie weiß nicht mehr, was sie tun soll. Telefonieren? Gehen? Sie hat die Wahl zwischen zwei Übeln. Und das, das ist ihr Leben.
    Schließlich richtet sie sich auf. In ihr ist eine Entscheidung gefallen. Gleich läuft sie weinend und ziellos von einem Zimmer zum anderen, ihre Bewegungen sind unkoordiniert, sie hört ihre eigene Stimme, hört sich wimmern wie ein Kind. Sie sagt immer wieder: »Konzentrier dich, Sophie. Atme und versuch nachzudenken. Du musst dich anziehen, das Gesicht waschen, deine Sachen nehmen. Schnell. Und weggehen. Sofort. Hol deine Sachen, pack deine Tasche, beeil dich.« Sie ist durch alle Zimmer gerannt und hat ein wenig die Orientierung verloren. Als sie an Léos Zimmer vorbeigeht, kann sie nicht anders, als noch einmal stehen zu bleiben, und als Erstes sieht sie nicht das starre, wächserneGesicht des Kindes, sondern seinen Hals und die braune Kordel, deren Ende sich über den Boden schlängelt. Sie erkennt das Ding: Es ist der Schnürsenkel ihrer Wanderschuhe.
    3
    A N MANCHES ERINNERT SIE SICH AN DIESEM T AG nicht mehr. Doch die Kirchenuhr von Sainte-Élisabeth, die 11 Uhr 15 anzeigt, sieht sie wieder vor sich.
    Die Sonne brennt heiß, ihre Schläfen pochen zum Zerspringen. Von ihrer Erschöpfung ganz zu schweigen. Sie sieht wieder Léos Leiche vor sich. Als würde sie ein zweites Mal erwachen. Sie versucht sich festzuhalten … Woran? Eine Glasscheibe unter ihrer Hand. Ein Ladengeschäft. Das Glas ist kalt. Sie spürt Schweißtropfen an ihren Armen herunterlaufen. Eiskalte Tropfen.
    Was tut sie hier? Und überhaupt: Wo ist sie eigentlich? Sie will nachsehen, wie spät es ist, aber sie hat ihre Armbanduhr nicht mehr. Dabei war sie sich sicher, dass sie sie umhatte … Nein, vielleicht auch nicht. Sie erinnert sich nicht. Rue du Temple. Meine Güte, hat sie anderthalb Stunden bis hierher gebraucht? Was hat sie die ganze Zeit gemacht? Wohin ist sie gegangen? Sophie, wohin gehst du denn? Bist du von der Rue Molière bis hierher gelaufen? Oder mit der Metro gefahren?
    Das schwarze Loch. Sie weiß, dass sie verrückt ist. Nein, sie braucht Zeit, das ist alles, ein bisschen Zeit, um sich zu konzentrieren. Ja, klar, sie muss mit der Metro gefahren sein. Ihren Körper spürt sie nicht mehr, nur noch den Schweiß,der an ihren Armen herunterläuft, quälend rinnende Tropfen, die sie abwischt, indem sie ihre Ellbogen an den Körper drückt. Was hat sie an? Sieht sie aus wie eine Verrückte? In ihrem Kopf ein Wirrwarr von Bildern. Nachdenken, etwas tun. Aber was?
    Sie sieht sich in einem Schaufenster und erkennt sich nicht wieder. Erst denkt sie, das sei sie gar nicht. Doch nein, sie ist es wirklich, nur da ist noch etwas anderes … Etwas anderes. Aber was?
    Sie blickt auf die Straße.
    Weitergehen und versuchen nachzudenken. Doch ihre Beine wollen sie nicht tragen. Nur noch ihr Kopf funktioniert ein wenig in diesem Rauschen von Bildern und Worten, das sie zu dämpfen versucht, indem sie weiteratmet. Ihr ist die Brust eng, als sei sie in einen Schraubstock eingespannt. Während sie sich mit einer Hand am Schaufenster abstützt, versucht sie ihre Gedanken zu ordnen.
    Du bist geflohen. So ist es: Du hattest Angst und bist geflohen. Wenn man Léos Leiche entdeckt, wird man nach dir suchen. Man wird dich anklagen … des … Wie sagt man? So ähnlich wie »Beihilfe« … Konzentrier dich!
    Im Grunde ist es doch ganz einfach: Du musstest auf das Kind aufpassen, und dann ist jemand gekommen und hat es umgebracht. Léo …
    Im Moment hat sie keine Erklärung dafür, dass die Wohnungstür doppelt verschlossen war, als sie geflohen ist. Die Erklärung wird sie später finden.
    Sie hebt den Blick. Sie kennt diese Ecke hier. Sie ist ganz in der Nähe ihres Hauses. Das ist es – du bist geflohen, und du gehst jetzt nach Hause.
    Es ist Irrsinn hierherzukommen. Wäre sie bei Sinnen gewesen, wäre sie niemals zurückgekommen. Man wird sie suchen.Sicherlich sucht man bereits nach ihr. Eine neue Welle der Erschöpfung überkommt sie. Ein Café, hier rechts. Sie geht hinein.
    Sie will sich an den hintersten Tisch setzen, versuchen nachzudenken. Aber erst muss sie sich im Raum orientieren,
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