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Die Begnadigung

Die Begnadigung

Titel: Die Begnadigung
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Die Zeit drängt, die Kranken siechen dahin – darum nicht theoretisieren, sondern praktizieren.
    (E. Baecker)
    Die Frau stand vor dem kleinen Schreibtisch, den Oberkörper entblößt, die Hände noch immer über dem Kopf gefaltet, wie es ihr der Arzt gesagt hatte. Ihre Augen sahen ängstlich auf die Hand des Arztes, auf den schwarzen Kugelschreiber, der Worte und Sätze auf ein Papier schrieb. Was es war, konnte sie nicht lesen. Die Angst verdunkelte den Blick … nur den Kugelschreiber sah sie, die schreibenden Finger.
    »Ist … ist es schlimm, Herr Doktor?« fragte sie leise.
    Dr. Jens Hansen sah auf. In seinen Augen war weder Trost noch Hoffnung.
    »Bitte, ziehen Sie sich wieder an, Frau Wottke.«
    »Ist … ist es Krebs, Herr Doktor?«
    »Warum muß es immer gleich Krebs sein, Frau Wottke?« Dr. Hansen legte den Kugelschreiber neben den Schreibblock und sah zu der Frau hinüber. Ihre Hände zitterten leicht. Sie trug einen hellgrauen Wollrock und streifte jetzt eine blaue Bluse über. Ihr blondes Haar lag in Wellen um das etwas runde Gesicht. Sie hatte blaue Augen, eine Stupsnase, volle Lippen und einen rundlichen Körper.
    Erna Wottke, las Dr. Hansen von der Patientenkartei, Ehefrau des Werkmeisters Franz Wottke. Mutter von sechs Kindern. Man sieht es ihr nicht an, dachte er. Alter: vierundvierzig Jahre. Von den üblichen Kinderkrankheiten abgesehen nie krank gewesen.
    »Das Wochenbett reinigt den Körper, sagte meine Mutter immer«, hatte Frau Wottke Hansen vor einer halben Stunde erklärt, als er die Krankengeschichte erforschte. Zweimal – beim dritten und fünften Kind – leichte Brustdrüsenentzündungen, die schnell abklangen. »Wissen Sie, Herr Doktor, im Krankenhaus, beim Putzen, da rissen sie immer die Fenster und Türen auf, die Mädchen. Und da habe ich Zug in die Brust bekommen. Der Arzt hat vielleicht geschimpft. Aber Gott sei Dank, zu schneiden brauchte er nicht. Das hat er mit Penicillin hingekriegt …«
    Seit einem Jahr in ärztlicher Behandlung. »Beim Waschen hab ich's bemerkt, Herr Doktor. Ein kleiner Knoten in der linken Brust. Tat gar nicht weh. ›Geh mal zum Arzt‹, hat mein Mann gesagt. ›Damit soll man nicht warten. Man liest jetzt soviel davon.‹«
    Die Frau war fertig angezogen. Sie stand vor dem Spiegel, drückte ihre blonden Haare zurecht, lockerte die Wellen. Sie war ruhiger geworden. Der Druck der Angst war von ihr gewichen.
    Eine nette, kleine Frau, dachte Dr. Hansen. Sechs Kinder, die ihr ganzer Stolz sind. Ein Mann, der alles für sie tut, und ein Siedlungshaus, Groschen für Groschen zusammengespart.
    Dr. Hansen wandte sich ab und beugte sich über seine Aufzeichnungen. Er konnte Erna Wottke nicht ansehen. Auch eine ärztliche Praxis mit fast zweitausend Krankenscheinen im Quartal stumpft nicht so ab, daß man nur noch die Krankheit und nicht mehr den Menschen sieht.
    »Seit einem Jahr werden Sie behandelt?« fragte Dr. Hansen. Erna Wottke setzte sich neben dem Schreibtisch auf einen Stuhl. Ihre Handtasche nahm sie auf den Schoß. Eidechsleder. Franz hatte sie zu Weihnachten gekauft. Geschimpft hatte sie darüber. Im Schlafzimmer waren neue Übergardinen nötiger.
    »Ja, Herr Doktor.«
    »Und was haben Sie getan?«
    »Der andere Doktor sagte mir: ›Das sind harmlose Talgdrüsenverhärtungen‹. Er hat mir was zum Einreiben verschrieben. Dann sollte ich die Brust mit verdünntem Alkohol waschen …«
    Dr. Hansen nickte. Seit einem Jahr Behandlung wegen chronischer Brustdrüsenentzündung, schrieb er in das Krankenblatt ein.
    Während des letzten Wortes sah er sie wieder an. Sie spielte nervös mit dem Verschluß der Eidechstasche.
    »Und warum kommen Sie zu mir?«
    »Mein Mann wollte es. Der Knoten ist dicker geworden. Aber er tut nicht weh. ›Geh mal zum andern Doktor‹, hat mein Mann gesagt. ›Zwei wissen immer mehr als einer.‹« In ihre Augen trat wieder die flimmernde Angst. Sie beugte sich etwas vor, forschte in der Miene Dr. Hansens, suchte nach einem Anhalt, nach Ruhe, nach Gewißheit, nach Trost.
    »Was ist es denn, Herr Doktor? Ich habe sechs Kinder. Das Jüngste ist drei Jahre … Es … ist doch nicht …«
    Sie wagte es nicht noch einmal, das Wort auszusprechen. So klein es war, so riesengroß war die Last des Grauens, die von ihm ausging. Dr. Hansen schüttelte den Kopf.
    »Keine Sorge, Frau Wottke. Wenn jemand hinfällt und sich das Knie aufschlägt, heißt es ja auch nicht gleich: Er hat sich das Bein gebrochen! Wir wollen aber nichts versäumen und
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