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Der kalte Hauch der Angst

Der kalte Hauch der Angst

Titel: Der kalte Hauch der Angst
Autoren: Pierre Lemaitre
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ist wie ein Puzzle: Ein einziges Teilchen genügt, um das Ganze im Geiste wieder zusammenzusetzen. Ohne den Kopf zu drehen, bewegt sie ganz leicht die Finger, sie spürt Haare, taucht wie eine Schwimmerin an die Oberfläche, wo das Grauen sie erwartet, dann aber hält sie sofort inne, als hätte sie einen elektrischen Schlag bekommen: Das Telefon läutet.
    Dieses Mal hat ihr Kopf nicht gezögert, umgehend hat er sich zur Tür gedreht. Von dort kommt das Läuten, vom nächststehenden Telefon, dem Apparat im Flur auf dem Kirschholztischchen. Sie schlägt kurz die Augen nieder, und der Anblick der Kinderleiche versetzt ihr einen Stich: wie sie auf der Seite liegt, Kopf auf den Knien, reglos.
    Hier, halb auf ihr, liegt ein totes Kind, ein Telefon will nicht aufhören zu läuten, und da ist Sophie, die auf das Kind aufpassen muss, die normalerweise ans Telefon geht, nun aber an der Wand sitzt, mit wippendem Kopf, und ihr Erbrochenes riecht. Ihr ist schwindelig, wieder wird ihr übel, gleich wird sie ohnmächtig. Ihr Gehirn ist in Auflösung begriffen, verzweifelt streckt sie die Hand aus wie eine Ertrinkende. Vielleicht liegt es an ihrer Kopflosigkeit, aber sie hat den Eindruck, dass das Läuten des Telefons lauter geworden ist. Nun hört sie nur noch das, es fährt ihr in den Schädel, erfüllt sie, lähmt sie. Mit ausgestreckten Händen tastet sie blind nach einem Halt, findet rechts etwas Hartes, woran sie sich klammern kann, um nicht ganz zu versinken. Und dieses Klingeln, das nicht mehr enden, nicht mehr aufhören will … Ihre Hand hat die Kante der Platte gepackt, auf der Léos Nachttischlampe steht. Sie drückt mit aller Kraft, und diese Muskelanspannung hält für einen Augenblick dieÜbelkeit zurück. Und das Läuten hört auf. Endlose Sekunden verstreichen. Sie hält den Atem an, zählt langsam … vier, fünf, sechs … Das Läuten ist verstummt.
    Sie schiebt einen Arm unter Léos Körper. Er wiegt nichts. Sie schafft es, seinen Kopf auf den Boden zu legen und sich mit ungeheurer Anstrengung hinzuknien. Nun ist wieder Stille eingekehrt, sie ist fast greifbar. Sophie atmet stoßweise, wie eine Gebärende. Ein langer Speichelfaden rinnt ihr aus dem Mundwinkel. Ohne den Kopf zu drehen, starrt sie ins Leere – sie sucht jemanden. Sie denkt: Hier in der Wohnung ist jemand, jemand, der Léo getötet hat, jemand, der auch mich gleich töten wird.
    In diesem Augenblick klingelt erneut das Telefon. Wieder durchfährt sie ein elektrischer Schlag. Sie blickt sich um. Sie muss etwas finden, schnell … Die Nachttischlampe. Sie schnappt die Lampe und zieht heftig daran. Das Kabel reißt, sie geht langsam durch das Zimmer in Richtung des Klingelns, ein Schritt nach dem anderen, sie hält die Lampe wie eine Fackel, wie eine Waffe, ohne sich der Lächerlichkeit der Situation bewusst zu sein. Aber man kann ja auch niemanden hören, wenn dieses Telefon unaufhörlich klingelt, schrillt! Dieses Klingeln, das mechanisch, beharrlich durch den Raum gellt. Sie ist an der Zimmertür, als es auf einmal wieder still wird. Sie geht weiter und ist sich plötzlich sicher, ohne zu wissen, warum, dass niemand hier in der Wohnung ist, dass sie allein ist.
    Ohne nachzudenken, ohne zu zögern, läuft sie bis ans Ende des Flurs zu den anderen Zimmern, die Lampe in der halb ausgestreckten Hand, das Kabel hinter sich herschleifend. Sie geht ins Wohnzimmer, in die Küche, dann wieder hinaus, öffnet Türen, alle Türen.
    Sie ist allein.
    Sie sinkt aufs Sofa und lässt schließlich die Lampe los. Das Erbrochene auf ihrem T-Shirt wirkt frisch. Wieder wird ihr übel. Sie reißt sich das T-Shirt vom Körper, wirft es auf den Boden, steht auf und geht ins Kinderzimmer. Sie lehnt am Türpfosten, die Arme vor der nackten Brust verschränkt, sieht die kleine, auf der Seite liegende Leiche an und weint leise … Sie muss telefonieren. Es hat ja keinen Zweck mehr, aber sie muss jemanden anrufen. Die Polizei, den Rettungsdienst, die Feuerwehr – wen ruft man in einem solchen Fall an? Madame Gervais? Die Angst fährt ihr in den Bauch.
    Sie will sich bewegen, aber sie kann nicht. Mein Gott, Sophie, in was für einen Schlamassel bist du hier geraten? Als wäre alles noch nicht schlimm genug … Du solltest sofort von hier verschwinden, auf der Stelle, bevor
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