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Der kalte Hauch der Angst

Der kalte Hauch der Angst

Titel: Der kalte Hauch der Angst
Autoren: Pierre Lemaitre
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hörte: »Es ist nichts, Häschen, es ist nichts. Entschuldige …«
    Léo nickte. In diesem Moment schien es, als würde das Erwachsenenleben unbarmherzig in seine Welt einbrechen und als sei auch er davon erschöpft. Er schlief gleich ein.
    Dieses Mal nahm sie das Angebot an und blieb über Nacht, so zerschlagen war sie.
    Sie hält die Schale mit dem mittlerweile kalten Tee mit beiden Händen fest, ihr laufen Tränen über die Wangen, ohne dass sie es bemerkt. Für einen kurzen Augenblick sieht sie ein Bild: der Kadaver einer Katze, der an eine Holztür genagelt ist. Eine schwarzweiße Katze. Und noch andere Bilder. Nur Tote. In ihrer Geschichte gibt es viele Tote.
    Es ist Zeit. Ein Blick auf die Wanduhr in der Küche: 9 Uhr 20. Ohne sich dessen bewusst zu sein, hat sie sich eine weitere Zigarette angesteckt. Nervös drückt sie sie aus.
    Â»Léo!«
    Beim Klang der eigenen Stimme zuckt sie zusammen. Sie hört Angst heraus und weiß nicht, woher sie kommt.
    Â»Léo?«
    Sie eilt ins Kinderzimmer. Die Decken auf dem Bettbilden einen Hügel wie bei einer Berg-und-Tal-Bahn. Erleichtert atmet sie aus und lächelt sogar flüchtig. Die Angst weicht einer dankbaren Zärtlichkeit.
    Sie geht zum Bett. »Ja, na, so was! Wo ist denn der Kleine?«
    Sie dreht sich um. »Vielleicht hier?«
    Mit einem leisen Quietschen macht sie die Tür des Kiefernschranks auf, während sie aus dem Augenwinkel das Bett beobachtet.
    Â»Nein, im Schrank ist er nicht. Vielleicht in der Kommode …?«
    Sie zieht eine Schublade nach der anderen auf. »Hier ist er nicht … Und hier ist er auch nicht … Nanu, hier auch nicht … Wo kann er denn nur sein?«
    Sie geht zur Tür und sagt lauter: »Hm, na gut. Wenn er nicht hier ist, dann gehe ich eben.«
    Geräuschvoll schließt sie die Tür, bleibt aber im Zimmer stehen, fixiert das Bett und den Haufen aus Decken. Sie nimmt eine Bewegung wahr. Und plötzlich wird ihr übel, ihr wird ganz flau im Magen. Diese Form – das kann nicht sein. Sie erstarrt, wieder kommen ihr die Tränen, aber es sind nicht mehr die gleichen, diese sind Tränen von früher, diejenigen, die den Körper eines blutenden Mannes benetzen, der über dem Lenkrad zusammengebrochen ist, diejenigen, die auf ihre Hände auf dem Rücken der alten Frau laufen, die die Treppe heruntergestürzt ist.
    Mit steifen Schritten geht sie zum Bett und reißt die Decken weg.
    Léo ist da, aber er schläft nicht. Er ist nackt, zusammengekrümmt, die Hände umfassen seine Knöchel, der Kopf steckt zwischen den Knien. Sein Gesicht hat eine erschreckende Farbe. Man hat ihn mit seinem Pyjama gefesselt.Eine Kordel wurde so fest um seinen Hals geschnürt, dass sie einen tiefen Schnitt im Fleisch hinterlassen hat.
    Sophie beißt sich in die Faust, kann den Brechreiz jedoch nicht unterdrücken. Sie beugt sich vor, sie will unter allen Umständen vermeiden, sich auf der Kinderleiche abzustützen, aber sie muss sich am Bett festhalten. Der kleine Körper neigt sich ihr auch gleich entgegen, Léos Kopf rutscht ihr an die Knie. Sophie drückt ihn so fest an sich, dass die beiden unweigerlich aufeinanderfallen.
    Und da sitzt sie nun auf dem Boden, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, auf dem Schoß Léos reglosen, kalten Körper … Sie erschrickt über ihre Schreie, so als kämen sie von jemand anderem. Sie blickt auf das Kind hinunter. Trotz des Tränenschleiers, der ihre Sicht trübt, erfasst sie das ganze Ausmaß dieser Katastrophe. Automatisch streicht sie über Léos Haar. Sein bleiches, fleckiges Gesicht ist ihr zugewandt, doch seine offenen Augen starren ins Leere.
    2
    W IE LANGE ? S IE WEISS ES NICHT . Sie schlägt die Augen wieder auf. Das Erste, was sie wahrnimmt, ist der Gestank ihres T-Shirts, voll mit Erbrochenem.
    Immer noch sitzt sie auf dem Boden, den Rücken an die Wand gelehnt, und starrt stur vor sich hin, als wolle sie, dass sich nichts mehr bewegt, weder ihr Kopf noch ihre Hände noch ihre Gedanken. Einfach dasitzen, reglos, mit der Wand verschmelzen. Wenn man erstarrt, muss alles erstarren, oder nicht? Aber dieser Gestank verursacht ihr Übelkeit. Sie drehtden Kopf. Eine klitzekleine Bewegung nach rechts, zur Tür. Wie spät ist es? Die umgekehrte Bewegung, winzig, nach links. Ein Bettfuß in ihrem Gesichtsfeld. Es
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