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Der kalte Hauch der Angst

Der kalte Hauch der Angst

Titel: Der kalte Hauch der Angst
Autoren: Pierre Lemaitre
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    W IE AN VIELEN ANDEREN M ORGEN ist sie auch heute verweint und mit einem Kloß im Hals aufgewacht, dabei hat sie gar keinen besonderen Grund, sich Sorgen zu machen. Seit Langem sind Tränen in ihrem Leben nichts Außergewöhnliches mehr; seit sie verrückt ist, weint sie jede Nacht. Würde sie morgens nicht ihre feuchten Wangen spüren, könnte sie fast auf den Gedanken kommen, dass ihre Nacht friedlich war und ihr Schlaf tief. Das tränenüberströmte Gesicht und der zugeschnürte Hals am Morgen sind ihr hingegen vertraut.
    Seit wann? Seit Vincents Unfall? Seit seinem Tod? Seit dem ersten Tod, oder reicht es noch länger zurück?
    Sie stützt sich auf den Ellbogen. Trocknet sich die Augen mit dem Bettlaken, tastet nach den Zigaretten und findet sie nicht, und da wird ihr jäh bewusst, wo sie ist. Plötzlich sieht sie wieder alles vor sich, die Ereignisse des vorigen Abends, was passiert ist … Augenblicklich erinnert sie sich, dass sie weggehen, dieses Haus verlassen muss. Aufstehen und gehen, aber sie bleibt wie ans Bett genagelt liegen, unfähig zur kleinsten Bewegung. Erschöpft.
    Als es ihr dann endlich gelingt, sich aus dem Bett zu quälen und ins Wohnzimmer zu gehen, sitzt Madame Gervais auf der Couch und beugt sich gelassen über ihre Tastatur.
    Â»Wie geht’s? Ausgeschlafen?«
    Â»Ja. Ausgeschlafen.«
    Â»Sie sehen erschöpft aus.«
    Â»Das ist bei mir morgens normal.«
    Madame Gervais speichert ihre Datei und klappt den Laptop zu.
    Â»Léo schläft noch«, sagt sie zu Sophie und geht entschlossen zur Garderobe. »Ich habe mich nicht getraut, nach ihm zu sehen, wollte ihn nicht wecken. Da er heute keine Schule hat, soll er lieber ausschlafen und Ihnen ein bisschen Ruhe gönnen …«
    Keine Schule heute. Sophie erinnert sich vage. Irgendeine Lehrerkonferenz. Madame Gervais steht an der Tür, sie hat bereits ihren Mantel an.
    Â»Ich muss los …«
    Sophie spürt, dass sie nicht den Mut haben wird, ihre Entscheidung mitzuteilen. Und selbst wenn, so war es schon zu spät dafür, denn Madame Gervais hatte bereits die Tür hinter sich geschlossen.
    Heute Abend …
    Sie hört die Schritte auf der Treppe. Christine Gervais nimmt nie den Aufzug.
    Stille hat sich über den Raum gesenkt. Zum ersten Mal, seit sie hier arbeitet, zündet sie sich mitten im Wohnzimmer eine Zigarette an. Sie geht umher, kommt sich vor wie die Überlebende einer Katastrophe; alles, was sie sieht, erscheint ihr sinnlos. Sie muss gehen. Nun, da sie allein ist, aufrecht steht und eine Zigarette in der Hand hält, verspürt sie weniger Eile. Aber sie weiß, dass sie sich wegen Léo fertig machen und gehen muss. Um richtig zu sich zu kommen, geht sie in die Küche und setzt den Wasserkessel auf.
    Léo. Sechs Jahre alt.
    Schon als sie ihn zum ersten Mal gesehen hat, fand sie ihn süß.
    Das war vor vier Monaten, hier in diesem Wohnzimmer in der Rue Molière. Er war hereingerannt gekommen, abrupt vor ihr stehen geblieben und hatte sie durchdringend angesehen; dabei hatte er den Kopf leicht schräg gehalten – ein Zeichen, dass er angestrengt nachdachte. Seine Mutter hatte nur gesagt: »Léo, das ist Sophie, ich habe dir von ihr erzählt.«
    Er hatte Sophie eine ganze Weile betrachtet, dann lediglich gemeint: »Gut«, und sie umarmt.
    Léo ist ein liebes Kind, ein bisschen launisch und klug. Sophies Aufgabe ist es, ihn am Morgen in die Schule zu bringen, ihn mittags und abends wieder abzuholen und auf ihn aufzupassen, bis Madame Gervais oder ihr Mann es irgendwann, niemals beizeiten, nach Hause schaffen. Sophies Feierabend liegt also zwischen halb sechs abends und zwei Uhr nachts. Ihre Flexibilität war ein entscheidender Trumpf, um diese Stelle zu bekommen: Sie hat kein Privatleben; das hatte sich schon beim ersten Gespräch herausgestellt. Selbstverständlich versuchte Madame Gervais diese Verfügbarkeit nicht allzu sehr auszunutzen, doch die Erfordernisse des Alltags haben immer Vorrang vor den Prinzipien, und bereits nach zwei Monaten war Sophie ein unverzichtbares Rädchen im Leben der Familie Gervais. Weil sie immer da ist, immer bereit, immer verfügbar.
    Léos Vater, ein groß aufgeschossener, spröder, faltiger Mittvierziger, ist Büroleiter im Außenministerium. Madame Gervais, eine große, elegante Dame mit einem unglaublich verführerischen
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