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Der kalte Hauch der Angst

Der kalte Hauch der Angst

Titel: Der kalte Hauch der Angst
Autoren: Pierre Lemaitre
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Nippes. Sophie wollte sitzen bleiben, das hatte sie zu Beginn gesagt: Ich will mich nicht hinlegen. Dr. Brevet hatte eine Handbewegung gemacht, mit der er zum Ausdruck brachte, dass das kein Problem sei. »Hier legt man sich nicht hin«, hatte er noch hinzugefügt. Sophie schilderte ihr Problem, so gut sie konnte. »Ein Heft«, verordnete der Doktor ihr dann. Sophie musste alles aufschreiben, was sie tat. Vielleicht ängstigte sie sich »ganz unnötig« wegen ihrer Vergesslichkeit. Man müsse sich bemühen, die Dinge objektiv zu betrachten, hatte Dr. Brevet gemeint. Auf diese Weise »können Sie genau feststellen, was Sie vergessen, was Sie verlieren«. Also begann Sophie, alles aufzuschreiben. Das machte sie – wie lange? – drei Wochen … bis zur nächsten Sitzung. Und während dieser Zeit verlor sie alles Mögliche! Sie vergaß Termine, und zwei Stunden bevor sie wieder zu Dr. Brevet gehen wollte, merkte sie, dass sie sogar ihr Heft verloren hatte. Sie hat überall danach gesucht. Es blieb unauffindbar. Ist sie an jenem Tag wieder auf Vincents Geburtstagsgeschenk gestoßen? – Das sie an seinem Geburtstag, alssie ihm eine Freude machen wollte, nicht hatte wiederfinden können … Alles geht drunter und drüber. Ihr Leben ist ein einziges Durcheinander …
    Sie gießt das Wasser in eine Teeschale und drückt ihre Zigarette aus. Freitag. Schulfrei. Normalerweise muss sie nur mittwochs und manchmal auch übers Wochenende den ganzen Tag auf Léo aufpassen. Sie unternehmen zusammen dies und jenes, je nachdem, was gerade möglich ist und wozu sie Lust haben. Bislang hatten sie ziemlich viel Spaß miteinander, wenn sie sich auch oft gestritten haben. Alles in allem lief es gut.
    Zumindest bis sie anfing, etwas Verstörendes und schließlich Störendes zu empfinden. Sie wollte dem keine Bedeutung beimessen, sie versuchte es zu verscheuchen wie eine lästige Fliege, aber es kam immer wieder beharrlich zurück und wirkte sich auf ihre Gefühle für das Kind aus. Zunächst war es nichts Alarmierendes. Nur etwas Unterschwelliges, Stilles. Etwas Geheimnisvolles, das sie beide betraf.
    Bis die Wahrheit ihr plötzlich vor Augen stand, gestern Abend auf der Place Dantremont.
    Ende Mai war das Wetter in Paris sehr schön. Léo wollte ein Eis haben. Sophie setzte sich auf eine Bank, sie fühlte sich nicht gut. Zuerst schrieb sie ihr Unwohlsein der Tatsache zu, dass sie auf diesem Platz waren, den sie von allen Plätzen der Stadt am meisten verabscheut, weil sie dort die ganze Zeit Gesprächen mit Hausfrauen ausweichen muss. Nachdem Sophie jeden Versuch im Keim erstickt hat, hüten sich nun die Frauen, die regelmäßig auf den Platz kommen, sie anzusprechen. Aber Sophie hat immer noch alle Mühe mit denen, die gelegentlich kommen, die neu oder zufällig hiersind, die Rentnerinnen gar nicht mitgerechnet. Sophie mag diesen Platz nicht.
    Zerstreut blättert sie in einer Zeitschrift, da kommt Léo und stellt sich vor sie. Er schaut sie an, einfach so, während er sein Eis isst. Sie erwidert seinen Blick. Und sie begreift – genau in diesem Moment begreift sie  – , dass sie nicht länger verbergen kann, was nun offensichtlich geworden ist: Unerklärlicherweise hat sie angefangen, Léo zu hassen. Er fixiert sie immer noch, und sie gerät außer sich, als sie sieht, wie sehr ihr alles, was er ist, unerträglich geworden ist – sein Engelsgesicht, seine unersättlichen Lippen, sein dummes Lächeln, seine lächerliche Kleidung.
    Sie sagte: »Wir gehen«, wie sie gesagt hätte: »Ich gehe.« Die Maschine in ihrem Kopf ist wieder in Gang gekommen. Mit ihren Aussetzern, Fehlern, Leerläufen, Unzuverlässigkeiten.
    Während sie eilig zum Haus geht (Léo beschwert sich, dass sie zu schnell läuft), stürmen in wildem Durcheinander Bilder auf sie ein: Vincents Auto prallt gegen einen Baum, Blaulicht blinkt in der Nacht, Vincents Uhr in einer Schmuckschatulle, Madame Duguet stürzt die Treppe hinunter, die Alarmanlage des Hauses heult mitten in der Nacht auf … Die Bilder ziehen erst in einer bestimmten Reihenfolge vorüber, dann in einer anderen, neue Bilder, alte Bilder. Die Schwindel-Maschine ist wieder unaufhaltsam in Bewegung gekommen.
    Sophie zählt die Jahre nicht mehr, seit sie verrückt ist. Es
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