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Totenruhe - Bleikammer - Phantom

Totenruhe - Bleikammer - Phantom

Titel: Totenruhe - Bleikammer - Phantom
Autoren: Martin Clauß
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    September 1898
    Der Kutscher war leicht gereizt ins Wirtshaus gegangen und kehrte keine fünf Minuten später mit einem kugelrunden Bauch voller Wut zurück. Feuchte Spuren rund um seinen Mund ließen erkennen, dass er in der kurzen Zeit ein Bier hinuntergekippt hatte.
    Wohl eher zwei , korrigierte sich die Jugendliche, die sich draußen neben der Kutsche die Beine vertrat. Auf halben Weg entließ der Dicke nämlich einen Rülpser in die Freiheit, mit dem man einen Luftballon hätte zum Platzen bringen können. Der Kutscher schüttelte sich, schlug mit seinen Pranken gegen das Gefährt, dass die Pferde zusammenzuckten, hievte sich auf den Kutschbock und knurrte: „Weiter geht’s!“
    Edeltraud beeilte sich, wieder in den offenen Wagen zu steigen. Sie kämpfte noch mit dem klemmenden Verschluss, um die Tür zu schließen, da gab er den Tieren schon die Peitsche. Der lange Lederriemen fuhr mehrmals haarscharf über ihrem Kopf vorbei. Anstatt sich ängstlich in den Sitz zu ducken, schnalzte die junge Frau mit den Fingern, laut genug, um sich die Aufmerksamkeit des Rüpels zu sichern. Er drehte den massigen Kopf langsam nach hinten.
    „Was gibt’s?“, brummte er.
    „Benehmen Sie sich, Kutscher!“, rief sie. „Überlegen Sie sich genau, wen Sie mit der Peitsche treffen wollen, und handeln Sie danach. Ich bezahle sie nicht dafür, dass Sie mich skalpieren.“
    Für einen Moment huschte ein Schatten über das breite, niedrige Gesicht des Angesprochenen, dann brach er in bellendes Lachen aus. „Du gefällst mir, Mädchen. Du bist nicht so erschrocken wie die Heulsusen hier.“
    „Konnten Sie jetzt den Weg nach Falkengrund in Erfahrung bringen?“
    „Verdammt, nein! Die vermaledeiten Memmen haben ihr Maul nicht aufbekommen. Wollten nicht, dass Fremde dort hinfahren. Sagten, da oben geht es um.“
    „Geht um?“
    „Na, da spukt es. Ist nicht geheuer.“ Wieder lachte er lautstark. „Ich sitze schon fast mein ganzes Leben auf dem Kutschbock. Gespenster habe ich auch ein paar gesehen, aber nach einem anständigen Schluck Obstler waren sie wieder vergessen. Ich wüsste nicht, warum man sich wegen ein paar bleichen Geistern in die Hose machen muss.“
    Edeltraud war beeindruckt und zeigte es auch. Strahlend klatschte sie in die Hände. „Sie haben die richtige Einstellung“, lobte sie. „Ich bin zwar noch keinen Geistern begegnet, aber ich lechze geradezu danach.“
    „Gespenster riechen schon manchmal ein bisschen komisch“, räumte der Kutscher ein. Ihm behagte es sichtlich, dass die junge Dame ihn zum Experten erhoben hatte. Zweifellos eine seltene Erfahrung für einen Mann wie ihn. „Sie müffeln nach nassen Hunden und fauliger Erde. Dann vergeht einem so dermaßen der Appetit, dass man zwei, drei Klare braucht, um den Geschmack zu neularisieren.“
    „Neutralisieren“, verbesserte Edeltraud. Sie war ein kleines, molliges Geschöpf von siebzehn Jahren, mit einem kreisrunden Gesicht, aus dem die großen dunklen Augen und die roten Backen hervorstachen. Dieses Gesicht wurde von unzähligen brünetten Löckchen umrahmt. Sie hatte sich in ein grünes Kleid gehüllt und sah darin noch wie ein Kind aus. Edeltraud konnte ihre ländliche Herkunft nicht verbergen, und doch war sie mehr als nur eine Bauerntochter. Die letzten zehn Jahre über hatte sie jede freie Minute in der gewaltigen Bibliothek ihres Onkels verbracht. Jetzt verband sie die Unerschrockenheit einer Landpomeranze mit der Belesenheit und Wissbegier einer wohlhabenden Städterin.
    Von einem ziemlich wunderlichen Freund ihres Onkels hatte sie erfahren, dass auf Schloss Falkengrund im Schwarzwald jemand eine Schule des Okkulten zu eröffnen versuchte. Sie war sofort Feuer und Flamme für diese Idee, und da ihr Vater die Meinung vertrat, spätestens mit sechzehn müsse jeder Mensch eigene Wege gehen, standen ihrem Studium des Übernatürlichen nichts mehr im Wege. Ihre beiden älteren Brüder waren längst aus dem Haus, der eine fuhr zur See, der andere bereiste als Quacksalber Böhmen. Drei jüngere Geschwister blieben übrig, um in der Landwirtschaft mitzuhelfen, Edeltraud galt als entbehrlich. Sie war auf dem Feld ohnehin nicht die tüchtigste, starrte bei ihren Tagträumen nur Löcher in die Luft, bis sich die Spatzen auf ihren Kopf setzten.
    „Ich finde den Weg schon“, behauptete der Kutscher. Seine Laune schien sich zu bessern, je weiter Wolfach hinter ihm zurückblieb. Mit den feigen Wirtshausgästen hatte er abgeschlossen.
    Den ganzen
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