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Was allein das Herz erkennt (German Edition)

Was allein das Herz erkennt (German Edition)

Titel: Was allein das Herz erkennt (German Edition)
Autoren: Luanne Rice
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Prolog
    D er See war so tief, dass man den Grund nicht auszuloten vermochte. Wenn er zufror, bildete sich eine meterdicke Eisschicht. Berge ragten ringsum im Norden, Osten und Westen auf, Klippen und Kiefern waren mit Schnee bedeckt. Kurz vor Sonnenaufgang blitzte das Nordlicht am Himmel auf. Der Junge gönnte ihm keinen Blick, sondern fuhr fort, seine Schlittschuhe anzuschnallen; dann griff er nach der Schaufel.
    Es war kalt, die Temperatur betrug minus fünf Grad. Zu Hause hatte er den Küchenofen mit Kohle und Brennholz eingeheizt. Das Feuer loderte, aber es reichte nicht aus, um das ganze Haus zu wärmen. Martin fror immer, auch wenn seine Mutter ihm frisches Brot zum Frühstück gab, das noch warm aus dem Ofen kam, oder ihm dicke Socken und Pullover strickte.
    Draußen wehte ein eisiger Wind, der seine Wangen rötete. Er war so schneidend, dass seine Lungen bei jedem Atemzug brannten und seine Finger erstarrten. Die Schnittwunden auf seiner Brust – frisch, noch entzündet und mit schwarzem Faden genäht – fühlten sich an, als stammten sie von Bärenklauen, aber nichts hätte ihn aufhalten können. In wenigen Stunden begann die Schule, aber vorher hatte er sich mit Ray am See verabredet.
    Die Sonne ging im Osten über den Bergen auf, orangefarbene Lichtblitze schossen durch das Geäst der Bäume. Martin glitt über das Eis, schob die Schaufel vor sich her und räumte den Schnee beiseite: mindestens fünf Zentimeter waren über Nacht gefallen. Als er das Kratzen eines Schaufelblatts hörte, spähte er zum anderen Ufer des Sees hinüber und winkte. Ray machte schnell und kräftig eine breite Bahn von der anderen Seite her frei.
    Die Jungen trafen sich und fuhren aneinander vorbei. Als die Sonne höher stieg, hatten sie bereits eine größere Fläche vom Schnee freigeräumt. Martin stellte sich die Zamboni im Maple Leaf Gardens vor, wie sie das Eis glatt hobelte, damit sein Vater spielen konnte. Die Menge klatschte laut Beifall.
    Und nun war es endlich so weit: der gefeierte Eishockeystar Martin Cartier würde auf den großen Ray Gardner treffen …
    Sie legten die Schaufeln beiseite und holten die Schläger und Pucks, die sie unter dem alten Baumstamm versteckt hatten. Martins Magen knurrte. Er hatte gestern Abend nicht genug zu essen bekommen und heute Morgen war das Brot seiner Mutter nicht richtig aufgegangen. Das Feuer war in den frühen Morgenstunden erloschen und der Ofen nicht heiß genug zum Backen gewesen. Seiner Mutter zuliebe hatte er eine halbe Scheibe heruntergewürgt und zu ignorieren versucht, wie sie dabei über seinen Vater schimpfte.
    Martins Magen meldete sich lauter zu Wort, selbst seine dicke Jacke konnte das Knurren nicht dämpfen. Er wusste, dass Ray es hören konnte – es hörte sich an wie das Knurren eines Bären oder Wolfes –, und der Gedanke, Ray könnte daraus schließen, dass sie hungern und frieren mussten, weil sie nicht genug Geld besaßen, war ihm peinlich.
    »Fertig?«, Ray tat, als habe er nichts bemerkt.
    » Bien sûr . « Martin war Ray dankbar, aber er bedachte ihn trotzdem mit einem mörderischen Blick, wie er es bei den Mittelfeldspielern der Profis gesehen hatte.
    Ihre Schläger berührten sich, Martin erwischte den Puck und die wilde Jagd war eröffnet.
    Während sie in rasantem Tempo über das Eis fegten, hörte er, wie die Kufen ihrer Schlittschuhe über das freigeschaufelte Eis kratzten. Schneeklumpen rieselten von den Ästen der Kiefern auf den gefrorenen See. Eine Rotwildfamilie knabberte an den Spitzen der hohen Gräser, die aus dem Schnee lugten. Auf der Jagd nach einer Feldmaus flog eine Eule tief über das Eis.
    Martin nahm all das wahr, obwohl er sich auf den Puck konzentrierte. Die Welt mit ihren tausend Ansichten drehte sich um ihn herum weiter, doch seine ganze Aufmerksamkeit galt der kleinen Hartgummischeibe. Die beiden Jungen kämpften miteinander und brachten sich, den Schläger um die Knöchel des Gegners gehakt, gegenseitig zu Fall und brüllten dabei vor Vergnügen. Martin entwickelte übermenschliche Kräfte und schien die Facettenaugen einer Gottesanbeterin zu besitzen; er war der beste Eishockeyspieler der Welt.
    Augen im Hinterkopf, das braucht man, weißt du! Das ist es, was die wirklichen Champions auszeichnet. Martin konnte die Stimme seines Vaters so deutlich hören, als befände er sich unmittelbar hinter ihm auf dem Lac Vert und nicht in Kalifornien, wo er sein Geld durchbrachte. Während Martin auf das Tor zusteuerte, stellte er
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