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Totenruhe - Bleikammer - Phantom

Totenruhe - Bleikammer - Phantom

Titel: Totenruhe - Bleikammer - Phantom
Autoren: Martin Clauß
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Nachmittag lang fuhren sie die Wege rund um das Dorf ab, fragten erfolglos mehrere Passanten und fanden Schloss Falkengrund schließlich aus eigener Kraft, als keine Wege mehr übrig waren.
    „Das muss es sein!“ Edeltraud klatschte sich vor Vorfreude auf die Schenkel. Sie fuhren die lange Mauer entlang auf das Tor zu, und das Mädchen hatte die Tür der Kutsche längst geöffnet. Es ging auf den Abend zu, das Wetter hatte aufgefrischt, ein böiger Wind kam aus wechselnden Richtungen, und ihre Ohren schmerzten ein wenig. Doch Schloss Falkengrunds Anblick ließ das alles vergessen.
    Die triste Front des unscheinbaren Jagdschlosses schob sich wie ein Grabstein aus der Erde. Ein kleiner gepflegter Garten ging in unberührte Wildnis über, trockenes Gras wurde dort raschelnd vom Wind niedergedrückt. An den meisten Fenstern waren die Läden geschlossen.
    „Na, was sag ich!“, triumphierte der Kutscher. „Nichts, wovor man Angst haben müsste.“
    Er brachte die Pferde direkt vor dem Portal zum Stehen.
    Und wenn niemand da ist? , fragte sich Edeltraud. Ich habe einen Brief geschickt, aber nie eine Antwort erhalten. Na ja, im Grunde habe ich einfach nicht auf eine Antwort gewartet. Ich hatte es viel zu eilig herzukommen.
    „Kutscher, das Gepäck!“
    „Warte doch erst einmal, ob sie dich überhaupt nehmen, verrücktes Ding“, erwiderte der Mann und schwang sich von dem Kutschbock herunter, der einmal rot gewesen war. „Vielleicht muss ich dich wieder zurückfahren.“
    „Auf keinen Fall“, entrüstete sie sich. „Das hier ist meine Schule, diese und keine andere.“
    Die Wolkendecke zog sich über ihr zusammen, als hätte jemand die Welt in einen grauen Leinensack gepackt und gut verschnürt. Der Wind wurde heftiger, griff nach dem Gebäude und rüttelte so lange an den Fensterläden, bis sich im ersten Stock einer löste und haltlos hin und her gestoßen wurde. Nach einer Weile öffnete sich das dahinterliegende Fenster, ein langer Arm packte den Laden und schloss ihn. Es ging so schnell, dass das Gesicht der Person nur für einen Augenblick zu sehen war.
    Edeltraud nahm den Türklopfer und schlug ihn heftig gegen das Holz. Sie wartete, doch niemand öffnete. „Hallo!“, rief sie, dann brüllte sie es.
    „Ich gehe mal ums Haus“, schlug der Kutscher vor. „Vielleicht gibt’s einen Hintereingang.“
    Das Mädchen hörte seine Worte kaum. „Die werden mich doch nicht hier draußen stehen lassen“, flüsterte sie im Selbstgespräch. Es fehlte nicht mehr viel, und sie wäre eingeschnappt. Das war doch keine Art und Weise, um liebe Gäste zu behandeln … oder zukünftige Schüler … oder junge, zerbrechliche Frauen!
    Sie machte sich daran, ihr Gepäck selbst auszuladen. Zwei große Koffer und eine Kiste – Klamotten, Erinnerungsstücke, ein paar Bücher, die ihr Onkel ihr geschenkt hatte, dazu einige Gläser Apfelmarmelade von ihrer Mutter. Die körperliche Arbeit half ihr, ihren Zorn abzureagieren. Außerdem würde sie den Leuten hier zeigen, dass sie nicht gewillt war, sich so leicht abspeisen zu lassen. Sie stellte sich auf die Kiste und fuchtelte mit den Armen, wie eine Schiffbrüchige auf einer einsamen Insel. Möglich, dass man im Inneren des Schlosses ihr Pochen dem Wind zugeschrieben hatte. Aber auf ihre Rufe musste man doch aufmerksam werden!
    Da mischte sich ein Schrei in den Lärm, den sie und der Wind gemeinsam veranstalteten.
    Zunächst dachte sie, der Schrei stamme aus dem Gebäude. Im nächsten Moment allerdings kam ein Mann um die Hausecke gerannt – es war der Kutscher, ohne Frage, doch sein Gesicht war kaum mehr wiederzuerkennen. Von Grauen und Panik verzerrt war es, fahlweiß wie das eines Todkranken, der Mund ein riesiges, unförmiges Loch, die Augen hervorquellend, die halblangen, ungewaschenen Haare gesträubt. Edeltraud gab sich alle Mühe, den immer größer werdenden dunklen Fleck nicht anzusehen, der sich auf seiner Hose ausbreitete. Der Kutscher hatte eingenässt!
    Wie ein Betrunkener stolperte er über den ebenen Untergrund, drehte sich sogar einmal um die eigene Achse und geriet ins tiefe Gras, schien unterzugehen zwischen den hohen Halmen. Von ihrer erhöhten Position aus beobachtete Edeltraud ihn atemlos. Er tauchte wieder auf, hielt auf seine Kutsche zu, machte drei Versuche, auf den Kutschbock zu gelangen, rutschte ab, stürzte zu Boden, rappelte sich wieder auf, bis er es schließlich geschafft hatte. Erst als er dort oben saß, die Zügel schon in den zittrigen
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