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Totenruhe - Bleikammer - Phantom

Totenruhe - Bleikammer - Phantom

Titel: Totenruhe - Bleikammer - Phantom
Autoren: Martin Clauß
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war.
    Unter den besorgten Blicken der beiden ungleichen Männer blieb Charmaine in der Mitte des Raumes stehen und hob bedächtig die Hände wie ein Muslim zum Gebet. Ihre Finger griffen durch die Erscheinungen hindurch. Samuel stöhnte. Ohne Nachzudenken ging Konrad zur Haupttür und öffnete sie, um etwas mehr Tageslicht in die Halle zu lassen. Seine Kopfhaut kribbelte unangenehm, als hätte er sich seit Ewigkeiten die Haare nicht mehr gewaschen. Es war eine ganz bestimmte Art von Gänsehaut, die ihn immer befiel, wenn er diese Füße in der Luft baumeln sah. Hatten sich diese Menschen alle an diesem Ort erhängt? Oder waren sie von anderen getötet und wie Jagdtrophäen aufgeknüpft worden? Eigentlich wollte er nichts über sie erfahren, wollte sie verdrängen und sich an ihren Anblick gewöhnen, bis er sie eines Tages so wenig sah wie Menschen, die seit Jahrzehnten an der Bahnlinie wohnten, den Zuglärm wahrnahmen.
    Aber natürlich war ihm klar, dass er den Spuk beseitigen musste, wenn aus diesem Gebäude jemals eine Schule machen wollte. Er musste den Fluch von diesem Haus nehmen. Und dazu musste er wissen, wer diese Leute waren und was für ein Schicksal sie erlitten hatten. Konnten ihm die Bewohner von Wolfach dabei weiterhelfen? Oder gab es irgendwo im Haus Aufzeichnungen über das Geschehene? In einem Geheimfach in einer der Kommoden vielleicht? Oder auf dem Dachboden, den er bis zu diesem Tag erst einmal betreten und noch nicht recht in Augenschein genommen, geschweige denn aufgeräumt hatte?
    „Charmaine“, sagte er leise, um die Französin von ihren Versuchen abzubringen, die Geister anzufassen. Woher wollte sie wissen, dass nicht etwas Furchtbares geschah, wenn sie sie tatsächlich berührte?
    „Ich glaube“, meinte Samuel, „du solltest einen Priester rufen. Das Haus muss gesegnet, das Böse daraus vertrieben werden.“ Inzwischen duzten sie sich alle.
    Ehe Konrad antworten konnte, fing er eine Bewegung im Augenwinkel auf. Die Bewegung war draußen vor dem Haus entstanden. Er spähte durch das Portal auf die Wiese hinaus. Ein prachtvolles rotes Reh hatte sich dem Gebäude bis auf wenige Meter genähert, war stehen geblieben und linste seinerseits neugierig durch die Tür. Konrad wusste nicht, ob das Tier die Gespenster sehen konnte, aber ihre Präsenz schien es nicht zu stören. Das kam ihm merkwürdig vor.
    Langsam machte er einige Schritte nach draußen. Das Reh wich ihm ruhig aus, ohne die Flucht zu ergreifen. Es tänzelte in einem Halbkreis um ihn herum. Konrad fragte sich, was es wollte. Rehe näherten sich in den seltensten Fällen den Menschen. Selbst wenn sie Hunger hatten, war ihre angeborene Vorsicht zu stark.
    „Was machst du denn hier?“, fragte er lauernd, während er nach Anzeichen einer Krankheit Ausschau hielt. Als Stadtmensch wusste er nicht genau, welche Symptome ein tollwütiges Tier aufwies, aber dieses hier sah nicht krank aus. Sein Fell glänzte, das Maul schäumte nicht, die Bewegungen waren sicher.
    „Charmaine“, rief er leise hinter sich. „Schau dir das an.“
    Er wartete nicht auf die Frau, sondern näherte sich dem Tier weiter, streckte die Hand mit der Handfläche nach oben aus, als wolle er es füttern. Irgendetwas stimmte mit dem Reh nicht, irgendetwas in seinen Augen. Was war es nur?
    Im nächsten Moment sah er es. An den Innenseiten der großen wissbegierigen Augen drückte eine dicke, dunkle Flüssigkeit nach außen. Tränen waren es keine. Eher schon …
    Das Reh schüttelte plötzlich den Kopf, öffnete die Kiefer, stemmte sich mit den Vorderbeinen ab. Ein Zittern durchlief es.
    Dann barst der Kopf des Rehs.
    So ähnlich musste es aussehen, wenn jemand aus nächster Nähe dem Tier mit einem Hammer den Schädel zerschmetterte. Aber da war niemand, und auch der Knall eines Schusses war nicht zu hören. Der Schädel des Tieres war von alleine zerbrochen, und zwar von innen nach außen, ungefähr so, als hätte sich im Gehirn in Überdruck aufgebaut, unter dem der Knochen schließlich nachgab.
    Ein Schwall aus Blut und Hirnmasse flog auf Konrad zu, reichte jedoch kaum bis zum ihm, streifte ihn nur leicht, besudelte das rechte Hosenbein und den Schuh. Der Mann konnte nur zusehen, wie der kopflose Körper des Tieres in grotesker Weise nach hinten kippte, als wolle es sich zum Nachdenken auf den Hintern setzen, und dann langsam umfiel. Befremdet beobachtete er, wie lange das Zucken der blutverschmierten Gliedmaßen andauerte. Es wollte und wollte einfach nicht
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