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Die Dämonen ruhen nicht

Die Dämonen ruhen nicht

Titel: Die Dämonen ruhen nicht
Autoren: Patricia Cornwell
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    Dr. Kay Scarpetta hält das winzige Glasröhrchen dicht an die Kerze, um die Made zu beleuchten, die in einem giftigen Äthanolbad treibt. Schon der erste Blick sagt ihr, in welchem Stadium der Metamorphose sich der cremefarbene Leichnam, kaum größer als ein Reiskorn, befunden hat, bevor man ihn zur Aufbewahrung in diesem Reagenzglas mit schwarzem Schraubdeckelverschluss versenkte. Hätte die Larve überlebt, sie hätte sich in eine blaue Calliphora erythrocephala, eine Schmeißfliege, verwandelt und ihre Eier in Mund und Augen eines toten Menschen oder in den schwärenden Wunden eines noch lebenden abgelegt.
    »Vielen Dank«, sagt Scarpetta und lässt den Blick den Tisch entlang über die vierzehn Polizisten und Spurensicherungsexperten des Abschlussjahrgangs 2003 an der National Forensic Academy schweifen. Er bleibt an Nic Robillards Unschuldsmiene hängen. »Ich weiß nicht, wer dieses Ding an einem Ort aufgesammelt hat, den man bei Tisch besser nicht erwähnt, um es in Gedanken an mich zu konservieren ... aber ...«
    Ausdruckslose Gesichter und Achselzucken.
    »... ich muss gestehen, dass ich heute zum ersten Mal im Leben eine Made geschenkt bekomme.«
    Niemand bekennt sich schuldig, doch wenn Scarpetta an einem nie gezweifelt hat, dann ist es die Fähigkeit eines Polizisten, zu bluffen und, wenn nötig, sogar unverfroren zu lügen. Und da sie das Zucken um Nic Robillards Mundwinkel bemerkt hat, noch ehe sonst jemand wusste, dass sie eine Made als Tischgenossin haben, hat sie einen ganz bestimmten Verdacht.
    Das Kerzenlicht streicht über das Röhrchen zwischen Scarpettas Fingerspitzen; ihre Nägel sind ordentlich gefeilt, kurz und eckig, ihre Hand ist ruhig und schmal, aber kräftig, denn schließlich hat sie es jahrelang mit widerständigen Leichen zu tun gehabt und sich durch starrsinniges Gewebe und Knochen gearbeitet.
    Zu Nicks Pech lachen ihre Kommilitonen nicht, und die junge Frau fühlt die Peinlichkeit wie einen kalten Hauch heraufkriechen. Obwohl sie die anderen Polizisten nach zehn Wochen eigentlich als Kollegen und Freunde betrachten sollte, ist sie immer noch Nic the Hick, die Provinzlerin aus Zachary Louisiana, einem Nest von zwölftausend Einwohnern, wo Mord bis vor kurzem als nahezu unbekannte Gräueltat galt. In Zachary konnten mitunter Jahre vergehen, ohne dass jemand umgebracht wurde.
    Die meisten der übrigen Lehrgangsteilnehmer sind durch ihre Arbeit in diversen Mordkommissionen so zynisch geworden, dass sie Tötungsdelikte inzwischen in verschiedene Kategorien einteilen: echter Mord, minderschwerer Mord und, wirklich und wahrhaftig, »Stadterneuerung«. Bei Nic hingegen gibt es keine verharmlosenden Bezeichnungen. Mord ist und bleibt Mord. In ihren acht Berufsjahren hat sie es erst mit zweien zu tun gehabt, beides Mal Schießereien im häuslichen Umfeld. Deshalb hat sie Höllenqualen ausgestanden, als ein Dozent am ersten Lehrgangstag von einem Polizisten nach dem anderen wissen wollte, wie viele Morde seine Abteilung durchschnittlich pro Jahr bearbeite. Keinen, erwiderte Nic. Die nächste Frage des Dozenten galt der Anzahl der Kollegen in den jeweiligen Abteilungen. Fünfunddreißig, sagte Nic. Also weniger, als wir in der achten Klasse waren, lautete der Kommentar eines ihrer neuen Mitstudenten. Vom ersten Tag des Lehrgangs an, der angeblich die größte Chance ihres Lebens ist, hat Nic verzweifelt versucht dazuzugehören; doch irgendwann hat sie sich damit abgefunden, dass sie - nach Polizistenweltsicht betrachtet - eben zu denen gehört und nicht zu uns.
    Durch ihren ziemlich albernen Streich mit der Made hat sie, wie sie nun bedauernd feststellt, offenbar gegen irgendeine Regel verstoßen (auch wenn sie nicht ganz weiß, gegen welche). Anscheinend gehört es sich nicht, dass sie der legendären Pathologin Dr. Kay Scarpetta ein Geschenk macht - sei es nun witzig oder ernst gemeint.
    Nics Gesicht wird heiß, und sie spürt den Schweiß in ihren Achselhöhlen, als sie die Reaktion ihres Idols beobachtet und nicht in der Lage ist, sie zu deuten; vermutlich liegt das daran, dass Nic vor lauter Unsicherheit und Verlegenheit nicht mehr klar urteilen kann.
    »Ich werde sie >Maddie< nennen, obwohl wir das Geschlecht noch nicht eindeutig bestimmen können«, beschließt Scarpetta. Die zuckende Kerzenflamme spiegelt sich in den Gläsern ihrer von einem Metallrahmen eingefassten Brille. »Doch der Name passt, wie ich finde, zu einer Made.« Ein Deckenventilator peitscht die Flamme in ihrer
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