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Totenruhe - Bleikammer - Phantom

Totenruhe - Bleikammer - Phantom

Titel: Totenruhe - Bleikammer - Phantom
Autoren: Martin Clauß
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Konsequenzen. Konsequenzen, die er weder verstehen noch unterbinden konnte.
    An jedem anderen Ort mochte Charmaine ein harmloses Geschöpf sein. Hier, auf Falkengrund, war sie eine Bedrohung. Eine nicht einzuschätzende Gefahr …

4
    Ein Jahr später, September 1898, der Tag von Edeltrauds Ankunft
    Konrad Winkheim war ein großgewachsener, schlanker Mann mit einer scharfen, schönen Nase. Der Altersunterschied zu Samuel und Charmaine war deutlich. Wenngleich er sich merklich um eine väterliche Ausstrahlung zu bemühen schien, haftete ihm etwas Unstetes, wenig Vertrauenserweckendes an. Er war gewiss kein schlechter Mensch, aber er neigte zu Leichtsinn und Angeberei. Seine Gestik war übertrieben groß und freundschaftlich, die meiste Zeit über stolzierte er mit ausgebreiteten Armen und weiten Schritten durch das Haus und gab Edeltraud Erklärungen ab, die weniger informativ als vielmehr wohlklingend waren.
    Insgeheim fragte sie sich mehr als einmal, ob Winkheim ein Scharlatan sein mochte. Die größte Enttäuschung erlebte sie, als er sie in die Bibliothek führte. Gerade einmal fünfzig Bücher verteilten sich einsam auf viel zu viele Regale. Für Edeltraud, die die monumentale Bibliothek ihres Onkels gewöhnt war, stellte der Anblick fast schon einen Schock dar. Konrad musste die Ernüchterung auf ihrem Gesicht erspäht haben, denn er meinte hastig: „Es ist alles erst im Aufbau begriffen.“
    „Ich bin doch nicht etwa der erste Schüler?“
    „Der zweite. Aber im Grunde sind wir alle noch Schüler. Samuel, Charmaine, und natürlich auch ich selbst. Ich war Illusionist, ehe ich mich dem ernsthaften Studium der geheimen Wissenschaften widmete.“
    Edeltraud verstand jetzt sein Gebaren. Sie blätterte ein wenig in den Büchern, fand immerhin zwei, drei Bände darunter, die ihr lesenswert erschienen, und das versöhnte sie ein wenig mit der Situation.
    Das Haus atmete Unheil, doch es war schwer zu sagen, woher der Eindruck rührte. Auch eine Stunde nach der überstürzten Abfahrt ihrer Kutsche war sie die Gänsehaut nicht völlig losgeworden. Die prickelnde Kälte lauerte noch immer irgendwo unter der Haut, und mehrmals drang sie wieder an die Oberfläche. Auslöser waren kurze Blicke in dunkle Korridore oder Zimmer, Blicke, die ihr nichts enthüllten, die aber dennoch irgendetwas aufgefangen haben mussten, etwas zutiefst Beunruhigendes.
    Zum Abendessen gab es Fasan und Gemüse, essbar und sättigend, aber weit davon entfernt, köstlich zu sein. Wichtiger als das Essen waren die Gespräche, die dabei geführt worden. Sie lernte Vinzenz kennen, den Diener, einen alten, etwas schief gehenden Mann mit weißen, beinahe durchscheinenden Haaren und einem sonnengebräunten Pferdegesicht. Er hatte den Fasan nicht nur zubereitet, sondern auch höchstpersönlich erlegt, denn Konrad und Samuel sahen sich nicht zum Jagen berufen. Erwin, der erste Schüler, ein junger Bursche mit schmalen Lippen, lichtem Haar und Nasenfahrrad, noch blasser als Samuel, hatte sein Glück mit dem Gewehr zwar versucht, dabei jedoch bislang noch nie sein Ziel getroffen. Es war Konrad, der solche Anekdoten preisgab, mit der rücksichtslosen Offenheit eines Mannes, der sein Publikums um jeden Preis unterhalten möchte.
    „Erwin“, berichtete Konrad weiter, den Mund voller Kohl, „hat einen sehr pragmatischen Grund, sich mit dem Übersinnlichen zu beschäftigen. Er möchte eines Tages die Welt beherrschen.“
    „Ist das wahr?“, fragte Edeltraud mit echtem Interesse.
    Der Bursche knurrte leise „Ach nein“, aber seine Augen schrien: Ja, Himmel, jaaa! Ihr werdet schon noch sehen – es kommt der Moment, da werdet ihr mich anwinseln, meine Füße küssen zu dürfen!
    Edeltraud schauderte unter diesem Blick. Es war das erste Mal, dass sie einem Menschen wie ihm begegnete. Allerdings ahnte sie, dass die Welt da draußen voll war von solchen Leuten, und sie hielt sich vor Augen, dass keiner von ihnen bisher sein Ziel erreicht hatte. Das beruhigte sie.
    „Es geht das Gerücht, auf Schloss Falkengrund würde es spuken“, schnitt sie bei einem frugalen Grießbrei-Nachtisch das Thema an, das sie am meisten beschäftigte, seit ihr Kutscher durchgebrannt war. „Stimmt das?“
    Samuel wollte abwinken, Charmaines ohnehin regloses Gesicht versteinerte noch mehr, doch Konrad Winkheim lachte. „Ja, das ist tatsächlich so! Dieses Gemäuer hat seinen Schlossgeist. Man kann seine durchscheinende Gestalt manchmal im Augenwinkel erkennen, aber bisher hat er
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