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Totenruhe - Bleikammer - Phantom

Totenruhe - Bleikammer - Phantom

Titel: Totenruhe - Bleikammer - Phantom
Autoren: Martin Clauß
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und von dem rückwärtigen Fenster aus zu beobachten, was sich draußen abspielte. Aber wenn sie jemand dabei erwischte, wie sie nachts in fremde Räume eindrang, dann würde es so aussehen, als gehe sie auf Diebestour. Außerdem gab es keine hundertprozentige Garantie dafür, dass sich in Charmaines Zimmer niemand mehr aufhielt. Offiziell bewohnte sie den Raum alleine, doch Edeltraud hatte noch nicht hinter die Kulissen geblickt. Vielleicht lag einer der Männer in ihrem Bett – Konrad oder Samuel.
    Sie rührte die Türklinke nicht an und ging lieber mit wehendem Mantel den Korridor entlang zur Treppe. Die Halle lag in brütendem Halbdunkel, und ihr Herz klopfte heftig, als sie die Stufen nach unten nahm und das Portal aufstieß.
    Der böige Wind des Tages hatte sich nicht gelegt. Jetzt in der frühen Morgendämmerung hatte er einen ganz besonderen Geruch angenommen, voller Feuchtigkeit. Er würde Regen bringen, schon bald. Die Schöße ihres leichten Mantels und ihres Nachthemds flatterten um ihre Beine, der Wind nestelte an den Kordeln und Rüschen und versuchte, ihr die kleine Kapuze vom Kopf zu reißen. Die Siebzehnjährige hielt auf die Hausecke zu, und im Zwielicht sah sie noch einmal den Kutscher dahinter hervorkommen, verändert, ausgewechselt, den Schatten von etwas Unbegreiflichem noch in den Augen.
    Als Edeltraud um die Ecke bog, nahm sie zunächst nur das vom Wind gepeitschte Gras wahr. Es schien gewachsen zu sein in den letzten Stunden, der verwilderte Garten war ein Ort fremder, tropischer Vegetation geworden, mit Halmen, die hoch in den Himmel wuchsen. Natürlich war das eine Täuschung, hervorgerufen durch die langen Schatten, die vor einem von Wolken halb verdeckten Mond tanzten. Aber es war eine hartnäckige Täuschung, eine von denen, die sich auch noch hielt, wenn man sie durchschaut hatte.
    Dass die fantasievollen Reliefs der Rückwand unter diesen Umständen höchst lebendig erschienen, verwunderte das Mädchen nicht. Die Tiere und Fabelwesen bildeten das Tor in einen Dschungel voller Albträume, aber dieser jagte ihr keine echte Angst ein.
    Wo war Charmaine abgeblieben? Ihr weißes Nachthemd hätte im Mondlicht leuchten müssen.
    Edeltrauds Eile verwandelte sich in zaudernde, bleierne Vorsicht. Langsam setzte sie einen Fuß vor den anderen, hielt sich mit dem Rücken zur Hauswand und suchte eine Spur der schönen Französin inmitten der wogenden Gräser. Hatte die Frau mitbekommen, dass sie verfolgt wurde, und verbarg sich nun vor ihr? Oder war sie nicht mehr hier?
    Die Mauer, die das Anwesen umgab, war gut und gerne zweihundert Meter entfernt und drei Meter hoch. Wenn Charmaine gerannt war, konnte sie es bis zur Mauer geschafft haben – aber konnte sie sich auch überwunden haben? Es war immerhin denkbar, dass es irgendwo einen Durchgang gab; so genau hatte die neue Studentin das Grundstück noch nicht untersucht. Hatte Charmaine das Anwesen verlassen und war in Richtung Wald davongegangen?
    Edeltraud hatte den Weg erreicht, der durch das hohe Gras führte. Es war ihr unangenehm, die schützende Wand im Rücken aufgeben zu müssen, aber sie musste es tun. Mit bedächtigen Schritten ging sie den Pfad entlang, sich beständig umsehend.
    Sie zuckte zusammen, als es unter ihrem linken Fuß knackte. Es hatte sich ein wenig angefühlt, als würde man eine dünne Nussschale zertreten. Sie beugte sich hinab, hatte schon die Hand ausgestreckt, doch dann zog sie die Finger wieder zurück, richtete sich auf, ging weiter. Ein paar Schritte, und die Empfindung wiederholte sich, diesmal unter dem Pantoffel des rechten Fußes. Angestrengt kniff das Mädchen die Augen zusammen und bemühte sich, auf dem Boden etwas zu erkennen.
    Kleine dunkle Punkte glitten über den Pfad. Sie waren etwa kirschgroß und überquerten den Weg von rechts nach links, einige davon geradlinig, andere stockend und in unregelmäßigen Bahnen. Es waren Insekten, Käfer. Das Mondlicht malte winzige Reflexe auf ihre schwarzen Körper. Edeltraud war keine Person, die sich leicht ekelte, und der Gedanke an die beiden toten Insekten, deren zermalmte Chitin-Panzer an den Sohlen ihrer Pantoffeln klebten, ließ sie kalt. Was sie verunsicherte, war die enorme Zahl der Tiere, die vor ihren Augen über den schmalen Weg krabbelten. In jeder Minute mussten es Hunderte sein. Woher kamen all diese Käfer, und was trieb sie dazu, sich zielstrebig in einer Richtung zu bewegen?
    Was immer auch ihr Ziel sein mochte, es musste sich links von ihr im
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