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Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Titel: Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)
Autoren: Orlando FIGES
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    Vorwort
     
    Drei alte Truhen waren gerade zugestellt worden. Sie standen im Eingang des Moskauer Büros von Memorial und versperrten allen den Weg in den betriebsamen Raum, in dem öffentliche Besucher und Geschichtsforscher empfangen wurden. Ich war in jenem Herbst 2007 angereist, um einige Kollegen in der Forschungsabteilung der Menschenrechtsorganisation zu besuchen. Sie bemerkten mein Interesse an den Truhen und kommentierten, diese enthielten das größte Privatarchiv, das Memorial in seinem zwanzigjährigen Bestehen übergeben worden sei. Es gehöre Lew und Swetlana Mischtschenko, einem Paar, das sich in den 1930er Jahren kennengelernt habe, nur um durch den Krieg von 1941–1945 und Lews dann folgende Inhaftierung im Gulag getrennt zu werden. Alle versicherten mir, dass die Liebesgeschichte der beiden ohnegleichen sei.
    Wir öffneten die größte der Truhen. So etwas hatte ich noch nie gesehen: mehrere Tausend Briefe in straffen, von Schnüren und Gummibändern zusammengehaltenen Bündeln, dazu Notizbücher, Tagebücher, Dokumente und Fotos. Der wertvollste Teil des Archivs befand sich in der dritten und kleinsten Truhe, einer braunen Sperrholzkiste mit Lederbesatz und drei Metallschlössern, die sich leicht aufklicken ließen. Niemand konnte sagen, wie viele Briefe sie enthielt – wir schätzten, vielleicht zweitausend –, sondern nur, wie schwer die Kiste war (37 Kilo). Es handelte sich ausschließlich um Liebesbriefe, die Lew und Swetlana einander geschrieben hatten, während er in Petschora einsaß, einem von Stalins berüchtigsten Arbeitslagern im hohen Norden Russlands. Der erste war im Juli 1946 von Swetlana, der letzte im Juli 1954 von Lew verfasst worden. Sie hatten einander mindestens zweimal pro Woche geschrieben. Dies war die bei Weitem größte Sammlung von Gulagbriefen, die je entdeckt wurde. Aber diese Briefe waren nicht nur wegen ihrer Menge so bemerkenswert, sondern vor allem deshalb, weil niemand sie zensiert hatte. Freiwillige Arbeiter und Funktionäre, die mit Lew sympathisierten, hatten sie in das Lager hinein- und aus ihm herausgeschmuggelt. Gerüchte über das Schmuggeln von Briefen gehörten zur reichhaltigen Folklore des Gulag, doch niemand hatte sich je einen illegalen Postsack dieser Größe vorgestellt.
    Die Briefe waren so straff gebündelt, dass ich die Finger zwischen sie zwängen musste, um den ersten herauszuholen. Er war von Swetlana an Lew gerichtet. Die kurze Adresse lautete:
     
Komi-ASSR
Region Koschwa
Holzkombinat
B[esserungs]L[ager] 274–11b
An Lew Glebowitsch Mischtschenko
     
    »274–11b« waren bürokratische Ziffern von schrecklicher Bedeutsamkeit.
     

     
    Ich begann, Swetlanas kleine, kaum erkennbare Handschrift auf dem gelben Papier, das in meinen Händen zerkrümelte, zu lesen. »Hier bin ich nun und weiß nicht einmal, was ich Dir schreiben soll. Dass ich Dich vermisse? Aber das weißt Du ja. Ich habe das Gefühl, außerhalb der Zeit zu leben, darauf zu warten, dass mein Leben weitergeht, wie nach einem Filmriss. Was ich auch tue, kommt mir so vor, als schlüge ich bloß die Zeit tot.« Ich zog einen weiteren Brief aus dem Bündel. Es war einer der von Lew verfassten. »Du hast mich einmal gefragt, ob es leichter sei, mit oder ohne Hoffnung zu leben. Ich kann überhaupt keine Hoffnung schöpfen, aber ich fühle mich ruhig ohne sie …« Ich hörte einem Gespräch zwischen ihnen zu.
    Während ich die Briefe durchblätterte, wuchs meine Erregung. Lews Schreiben enthielten reichhaltige Details über das Arbeitslager. Möglicherweise war dies die einzige große, in Echtzeit entstandene Aufzeichnung des Alltagslebens im Gulag, die je ans Licht kommen würde. Viele Erinnerungen früherer Gefangener an die Arbeitslager waren aufgetaucht, doch keine konnte sich mit diesen unzensierten Briefen vergleichen, die aus der Haftzeit in der Stacheldrahtzone stammten. Lews Briefe sollten nur einer einzigen Leserin erklären, was er durchmachte, aber im Lauf der Jahre enthüllten sie immer mehr von den Verhältnissen im Lager. Swetlanas Briefe hatten den Zweck, ihn im Gulag zu ermutigen, ihm Hoffnung zu machen, erzählten jedoch auch, wie ich bald begriff, die Geschichte ihres eigenen Ringens darum, ihre Liebe am Leben zu erhalten.

    Swetlanas erster Brief, 1946

    Lews 24. Brief, 1946
     
    Ungefähr 20 Millionen Menschen, hauptsächlich Männer, litten in Stalins Arbeitslagern. Die Häftlinge durften in der Regel ein Mal im Monat Briefe schreiben und empfangen, wobei
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