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Radikal

Radikal

Titel: Radikal
Autoren: Yassin Musharbash
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I
    Niklas Weissenthal war das Produkt einer langen Serie fehlgeschlagener Erziehungsversuche, und er wusste das selbst am besten. Es war 9 Uhr 27 am Montag, und Niklas hätte eigentlich in der zweiten Reihe des Raumes 25 sitzen müssen, um den Ausführungen von Hartmut Blohm zu folgen, bis zu den Abitur-Vorprüfungen waren es schließlich nur noch wenige Monate. Doch statt im Grundkurs Mathematik saß Niklas Weissenthal in seinem Zimmer, genauer gesagt an seinem Schreibtisch. Seine Hände ruhten regungslos auf der Tastatur seines Computers, die rechte Hand stieß dabei an eine fast leere Tüte Paprikachips, die linke trennten nur wenige Zentimeter von einer halb leeren Literflasche Eistee. Der Fußboden war übersät mit Dreckwäsche. In einer Ecke stapelten sich vergessene Pizzakartons. Zwei der drei Türen des Kleiderschrankes wiesen Graffiti sowie Spuren nackter Gewalt auf. Die Tür, die vom Flur der Altbauwohnung in Niklas’ Zimmer führte, war durch eine Metallkette gesichert – von innen. Auch die Tür war mehr als einmal eingetreten worden, von beiden Richtungen.
    Neben dem gigantischen Monitor, vor dem Niklas saß, stand ein im Vergleich winziger Fernseher. Das Bild war halb verdeckt von einem vor Wochen umgekippten Lampenschirm. Ein Nachrichtensprecher berichtete gerade von der nunmehr zweiten Welle israelischer Luftangriffe auf Gaza-Stadt an diesem Morgen. Niklas hörte nicht hin. Er war erschöpft und aufgekratzt zugleich, aufnahmefähig für oder gar interessiert an den aktuellsten Massakern war er nicht.
    Den größten Teil der Nacht hatte Niklas online verbracht, um sich abzulenken, vorwiegend mit verlustreichen Pokerrunden. Morgens um drei hatte er auf sein bevorzugtes Computerspiel gewechselt.Erst vor wenigen Momenten hatte er die Einwohnerschaft von Paris mithilfe mehrerer nuklearer Sprengköpfe um die Hälfte reduziert.
    Der Sieg stand unmittelbar bevor.
    Doch anstatt den nächsten Zug zu machen, zu dem ein regelmäßig blinkendes Icon ihn aufforderte, drehte er sich aus den Resten, die er in seinem Lederbeutel finden konnte, einen letzten, ziemlich dünnen Joint. Er wusste, dass es hoffnungslos war, von dem Joint Beruhigung zu erwarten. Nicht wenn man zehn Stück am Tag rauchte. Er steckte ihn trotzdem an.
    Erneut ging Niklas im Kopf die Wahrscheinlichkeiten durch. Wenn seine Abwägung positiv ausfiel, versprach sich Niklas, dann würde er sich wenigstens aufraffen, zur fünften und sechsten Stunde in der Schule aufzutauchen. Dann würde der Chemie-Leistungskurs stattfinden, das Einzige, was ihn dort interessierte.
    Niklas hörte, wie die Wohnungstür ins Schloss fiel. Nun hatte also auch seine Mutter das Haus verlassen, wie immer grußlos, und wie immer würde irgendeine Aufforderung wie »Geh zur Schule, verdammt!« auf dem Küchentisch liegen. Vielleicht, dachte Niklas, würde es jetzt leichter sein, klar zu denken, wenn außer ihm niemand mehr in der Wohnung war.
    Er trat auf den Balkon seines kleinen Zimmers in der Soldiner Straße im Berliner Stadtteil Wedding. Die Morgensonne war fahl genug, ihn nicht zu blenden, wofür er dankbar war. Sein Blick fiel auf das schmale Ufer der Panke, ein dünner Bach, der direkt neben dem Haus entlangfloss, gesäumt von Weiden und Trampelpfaden an beiden Seiten, die vor allem Jogger und türkische Mütter mit Kinderwagen frequentierten. Etwa einen Kilometer nördlich von hier begann auf der von ihm aus gesehen linken Uferseite eine Schrebergartensiedlung mit kleinen Lauben. Und genau dort, in einem leicht verlotterten Gartenhaus, dessen Name ein kleines Holzschild als »Dora« auswies, hatte Niklas Weissenthal vor ziemlich genau zehn Stunden zum ersten Mal in seinem Leben etwas von seinem selbst produzierten Sprengstoff verkauft. Acetonperoxid, auch bekannt als TATP oder APEX .
    Also, fragte sich Niklas zum hundertsten Mal, während sein Blick einem über die Straße kullernden Basketball folgte, wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass sein Kunde ein Terrorist war?
    Es fiel ihm schwer, die Fakten zu sortieren. Die Fragen überwogen. Zum Beispiel diese: Wie hatte der Mann überhaupt wissen können, dass Niklas über TATP verfügte? Oder diese: Wieso war der Mann so selbstverständlich davon ausgegangen, dass Niklas Geld brauchte? Und zwar so selbstverständlich, dass er ohne nachzudenken einen gerade noch annehmbaren Preis genannt hatte, der trotzdem deutlich unter dem gängigen Schwarzmarktpreis lag? Natürlich, dachte Niklas, könnte man auch
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