Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der kalte Hauch der Angst

Der kalte Hauch der Angst

Titel: Der kalte Hauch der Angst
Autoren: Pierre Lemaitre
Vom Netzwerk:
Lächeln, versucht die beruflichen Anforderungen als Statistikerin bei einer Wirtschaftsprüfungsgesellschaftmit ihren Aufgaben als Léos Mutter und Gattin eines künftigen Staatssekretärs in Einklang zu bringen. Beide verdienen sehr gut. Sophie war so klug, dies bei den Gehaltsverhandlungen nicht auszuspielen. Sie war in der Tat gar nicht auf diesen Gedanken gekommen, denn man hatte ihr genügend Geld geboten, um ihre Ausgaben zu bestreiten. Am Ende des zweiten Monats hat Madame Gervais ihr Gehalt erhöht.
    Léo seinerseits hält große Stücke auf Sophie. Offenbar kann sie ihn als Einzige mühelos zu bestimmten Dingen bewegen – wofür seine Mutter Stunden brauchen würde. Er ist kein verwöhntes Kind mit tyrannischen Anwandlungen, wie zu fürchten war; nein, er ist ein ruhiger und folgsamer Junge. Natürlich hat er auch seinen eigenen Kopf, aber Sophie steht in seiner Hierarchie weit oben. Ganz weit oben.
    Jeden Abend ruft Christine Gervais gegen sechs Uhr an, um sich nach Neuigkeiten zu erkundigen und in verlegenem Tonfall Bescheid zu sagen, wann sie nach Hause kommt. Am Telefon unterhält sie sich immer ein paar Minuten mit ihrem Sohn, dann mit Sophie und versucht ein paar persönliche Worte mit ihr zu wechseln.
    Diese Versuche sind wenig erfolgreich: Sophie lässt es ohne besonderen Grund bei allgemeinen Aussagen bewenden, in denen die Schilderung der Aktivitäten des Tages den größten Raum einnimmt. Léo muss jeden Abend Punkt acht ins Bett. Das ist wichtig. Sophie hat keine Kinder, aber sie hat Prinzipien. Sie liest ihm eine Geschichte vor, dann setzt sie sich für den Rest des Abends vor den riesigen Fernseher mit Extra-Flachbildschirm, der so ziemlich jeden Satellitensender empfangen kann – ein verstecktes Geschenk, das ihr Madame Gervais im zweiten Monat ihrer Anstellung gemacht hat, nachdem sie bemerkt hatte,dass Sophie stets vor dem Fernseher saß, egal, wann sie nach Hause kam. Madame Gervais hat sich schon mehrfach gewundert, dass sich eine dreißigjährige, merklich gebildete Frau mit einer so bescheidenen Arbeit begnügt und allabendlich vor dem Fernseher hockt, selbst wenn der Bildschirm nun größer ist. Bei ihrem ersten Gespräch hat Sophie erwähnt, dass sie Kommunikationswissenschaften studiert hat. Als Madame Gervais Genaueres wissen wollte, sagte Sophie, sie hätte einen Master-Abschluss und für ein Unternehmen in England gearbeitet. Hat aber nicht genau erläutert in welcher Funktion. Und dass sie verheiratet gewesen sei. Christine Gervais hat sich mit diesen Auskünften zufriedengegeben. Sophie war ihr von einer Jugendfreundin empfohlen worden, der Direktorin einer Zeitarbeitsfirma, die Sophie beim ersten und einzigen Gespräch aus unerfindlichen Gründen sympathisch gefunden hatte. Und dann war die Sache ja auch dringend gewesen: Léos voriges Kindermädchen hatte ganz unerwartet und ohne Vorankündigung gekündigt. Sophies ruhiges und ernstes Gesicht hatte Vertrauen erweckt.
    Im Laufe der ersten Wochen hatte Madame Gervais gelegentlich versucht, mehr über Sophies Leben zu erfahren, es dann aber aus Taktgefühl aufgegeben, weil sie an Sophies Antworten zu erahnen meinte, dass wohl »eine schreckliche, aber geheime Tragödie« ihr Leben zerstört haben musste – ein kleines Überbleibsel romantischer Vorstellungen, wie man sie überall findet, selbst in großbürgerlichen Kreisen.
    Als der Kessel pfeift, ist Sophie, wie so oft, in Gedanken verloren. Dieser Zustand kann bei ihr lange andauern. Eine Art Abwesenheit. Ihr Gehirn scheint um einen Gedanken, ein Bild herum zu erstarren, ihr Denken kreist sehrlangsam darum herum wie ein Insekt, und sie verliert jegliches Zeitgefühl. Doch dann kehrt sie plötzlich wieder ins Hier und Jetzt zurück, als sei sie von der Schwerkraft zurückgezogen worden. Und an der Stelle, wo es unterbrochen wurde, nimmt sie ihr normales Leben wieder auf. Das ist immer so.
    Dieses Mal taucht merkwürdigerweise das Gesicht von Dr. Brevet auf. An ihn hat sie wirklich schon lange nicht mehr gedacht. Er sah ganz anders aus. Am Telefon hatte sie sich ihn als einen großen, strengen Mann vorgestellt, dabei ist er ein kleines Männchen. Man könnte ihn für einen Notarsgehilfen halten, der ganz beflissen ist, weil man ihm gestattet hat, zweitrangige Klienten zu empfangen. An der Seite ein Regal mit Büchern und
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher