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Der Kleine Mann und die Kleine Miss

Der Kleine Mann und die Kleine Miss

Titel: Der Kleine Mann und die Kleine Miss
Autoren: Erich Kästner
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Liebe
Kinder,
     
    gestern
hatte ich überraschenden Besuch. Es klingelte. Ich öffnete. Und wer stand
draußen? Der Schüler Jakob Hurtig aus der Kickelhahnstraße 17, Erdgeschoss
links. »Unverhofft kommt oft«, erklärte er vergnügt.
    »Treten
Sie näher, Herr Unverhofft«, sagte ich, und dann marschierten wir erst einmal
in die Küche. Denn dort steht der Eisschrank. »Du bist ja schon wieder
gewachsen«, stellte ich fest.
    »Was
bleibt einem jungen Menschen weiter übrig?«, fragte er.
    »Das
bisschen Schule, die paar Hausaufgaben, die kleinen Besorgungen für die liebe
Mutter, die englische Privatstunde, der Turnverein, das Zähneputzen, das
Schuheputzen, das Naseputzen, das Füßewaschen, das Nägelschneiden, das
Haarekämmen, was ist das schon? Was, um alles in der Welt, soll man in der
übrigen Zeit tun? Da ist Wachsen noch das Gescheiteste.«
    »Freilich.«
Ich nickte. »Außerdem hat man’s dann hinter sich.
    Aber
Wachsen macht hungrig. Wie wär’s mit einem Sülzkotelett?
    Oder
bist du satt?«
    Jakob
schielte kurz zum Eisschrank hinüber. Anschließend blickte er mir fest in die
Augen und sagte: »Man soll nicht lügen.«
     
    Nachdem
er das Sülzkotelett vertilgt hatte, meinte er seufzend:
    »Ungewöhnlich
schmackhaft«, wischte sich den Mund, wickelte den Kotelettknochen in die
Papierserviette und fügte erläuternd hinzu: »Falls ich auf dem Nachhauseweg
einen Hund treffe.«
    »Noch
ein Sülzkotelett?«, lockte ich. »Es ist noch eines im Eisschrank.«
    »Danke
nein«, sagte er. »Mein Magen ist vorübergehend wegen Überfüllung geschlossen.
Außerdem bin ich ja nicht zu meinem Vergnügen hier. Ich habe den dienstlichen
Auftrag, Ihnen tausend Grüße zu überbringen und einen Kuss auf die Nasenspitze
zu geben.« Er stopfte den Kotelettknochen in die Hosentasche, rutschte verlegen
auf dem Küchenstuhl hin und her und fragte nach einer Weile: »Ist es Ihnen
recht, wenn wir die Sache mit der Nasenspitze weglassen? So was liegt mir nicht
besonders.«
    »Mir
auch nicht«, gab ich zu. »Aber wer lässt mich denn, ob nun mit oder ohne
Nasenspitze, tausendmal grüßen?«
    »Natürlich
Mäxchen«, sagte Jakob. »Er hat mir einen langen Brief geschickt. Zehn Seiten in
Briefmarkengröße! Mir tun jetzt noch die Pupillen weh.«
    »Er
konnte den Brief doch der Rosa Marzipan in die Maschine diktieren!«
    »Nein.
Das konnte er nicht!«
    »Und
warum nicht, wenn ich fragen darf?«
    »Weil
sie im Bett liegt und ein Baby gekriegt hat. Einen Jungen.«
    »Das
ist eine gute Idee!«, rief ich. »Und wie heißt der Knabe?«
    »Er
heißt überhaupt noch nicht. Rosa will ihn Daniel nennen, aber der Jokus ist für
Ferdinand.« Jakob kicherte. »Dabei hat ihnen Mäxchen einen bildschönen
Vorschlag gemacht! Doch sie waren beide dagegen.«
    »Das
klingt verdächtig.«
    »Weil
der Vater Jokus von Pokus heißt, sollten sie den Sohn Joküsschen von Poküsschen
nennen!«
    »Ich
habe es schon immer vermutet«, sagte ich, »und nun weiß ich’s endgültig:
Mäxchen ist ein Ferkel.«
    Jakob
kicherte unverdrossen weiter. Er hörte erst auf, als ich ihn schräg ansah und
kaltblütig erklärte: »Wer jetzt weiterlacht, kriegt keine Limonade.«
     
    Die
Limonade trank er drüben im Arbeitszimmer, während er an den Regalen
entlangschob und die Buchtitel studierte. Plötzlich blieb er stehen, schlug
sich mit der Hand vor die Stirn, dass es nur so klatschte, und sagte
verbittert: »Da haben wir’s – ich werde alt.«
    »Man
soll nichts übereilen«, gab ich zu bedenken. »Warte damit wenigstens bis zur
Konfirmation.«

    »Ich
werde alt und vergesslich«, fuhr er fort. »Und was vergesse ich jedes Mal?
Ausgerechnet die Hauptsache!«
    »Es
muss auch alte Knaben geben«, sagte ich, um ihn zu trösten. »Trotzdem wüsste
ich ganz gern, welche Hauptsache du diesmal fast vergessen hättest.«
    Jakob
trank sein Glas leer, stellte es aufs Fensterbrett, holte tief Luft, als wolle
er Schillers ›Lied von der Glocke‹ aufsagen, und begann: »Mäxchen schreibt, Sie
hätten ihm im vorigen Jahr versprochen, die Geschichte vom kleinen Mann
fortzusetzen und…«
    »Stimmt«,
meinte ich. »In Lugano. Auf der Terrasse. Rosa Marzipan und der Jokus saßen
dabei. Und Mrs. und Miss Simpson auch. Es gab Pfirsichbowle. Der Vollmond
schien. Unten auf dem See wurde das große Feuerwerk abgebrannt, dass es nur so
zischte und krachte. Der Himmel und das Wasser schillerten in allen Farben. Es
war wunderbar. Und als der Jokus, nach dem Feuerwerk, die Lampen auf
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