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Der kalte Hauch der Angst

Der kalte Hauch der Angst

Titel: Der kalte Hauch der Angst
Autoren: Pierre Lemaitre
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reicht so weit zurück … Wegen ihrer Geisteskrankheit hat sie sicherlich den Eindruck, dass die Zeit doppelt so schnell vergangen ist. Erst war es ein sanfter Abhang gewesen, doch im Laufe der Monate hatte sie dann den Eindruck bekommen, in vollem Tempo auf einem Schlitten bergab zu rasen.Damals war Sophie verheiratet gewesen. Das war vor … all diesem. Vincent war ein sehr geduldiger Mann. Immer wenn Sophie an Vincent zurückdenkt, erscheint er ihr in einer Art Überblendung: der junge, lächelnde, seelenruhige Vincent, überlagert von dem Vincent der letzten Monate: abgespanntes Gesicht, gelbe Haut, glasiger Blick. Zu Beginn ihrer Ehe (Sophie sieht ihre Wohnung genau vor sich; man muss sich fragen, wie in einem einzigen Kopf so ein Überfluss und so ein Mangel zugleich herrschen können) war es nur diese Zerstreutheit. »Sophie ist zerstreut«, hieß es immer. Aber sie tröstete sich damit, dass sie das schon immer gewesen war. Dann wurde ihre Zerstreutheit zur Absonderlichkeit. Und einige Monate später lief mit einem Mal alles aus dem Ruder. Sie vergaß Verabredungen, Dinge, Leute, sie verlor Sachen, Schlüssel, Papiere und fand sie nach Wochen an den unglaublichsten Stellen wieder. Trotz seiner Gelassenheit wurde Vincent allmählich immer gereizter. Verständlich. Denn: Antibabypille vergessen, Geburtstagsgeschenke verloren, Weihnachtsdekoration verlegt … – das bringt selbst die ruhigsten Gemüter auf. Sophie begann alles aufzuschreiben, mit der minutiösen Sorgfalt einer Drogensüchtigen auf Entzug. Sie verlor die Notizbücher. Sie verlor ihren Wagen, ihre Freunde, sie wurde wegen Diebstahls festgenommen, ihre Verstörung griff langsam auf alle Bereiche ihres Lebens über, und sie fing an, wie eine Alkoholikerin ihre Unzulänglichkeiten zu kaschieren, zu überspielen, damit weder Vincent noch sonst jemand etwas merkte. Ihr Therapeut schlug ihr einen Klinikaufenthalt vor. Sie lehnte ab, bis sich dann der Tod in ihren Wahn einlud.
    Im Gehen öffnet Sophie ihre Tasche, steckt die Hand hinein, zündet sich zitternd eine Zigarette an, inhaliert tief denRauch. Sie schließt die Augen. Trotz des Rauschens in ihrem Kopf und des Unwohlseins, das an ihr zehrt, bemerkt sie, dass Léo nicht mehr bei ihr ist. Sie dreht sich um und sieht ihn weit hinten – mit verschränkten Armen und verschlossenem Gesicht steht er auf dem Trottoir und will nicht mehr weitergehen. Der Anblick dieses schmollenden Kindes mitten auf dem Gehweg erfüllt sie plötzlich mit nackter Wut. Entschlossen geht sie zurück, bleibt abrupt vor ihm stehen und verpasst ihm eine schallende Ohrfeige. Beim Geräusch dieses Schlages kommt sie wieder zu sich. Auf einmal schämt sie sich, sie blickt sich um, ob jemand sie gesehen hat. Da ist niemand, die Straße ist verlassen, nur ein Motorrad fährt langsam an ihnen vorbei. Sie sieht das Kind an, das sich die Wange reibt. Léo erwidert ihren Blick, ohne zu weinen, als würde er irgendwie spüren, dass ihn das im Grunde gar nicht betrifft.
    Â»Wir gehen nach Hause«, sagt sie mit Bestimmtheit.
    Und das war alles.
    Den ganzen Abend lang sprachen sie nicht mehr miteinander. Ein jeder hatte seine Gründe. Sie fragte sich kurz, ob sie wegen dieser Ohrfeige möglicherweise Probleme mit Madame Gervais bekommen würde, wusste aber, dass ihr das egal wäre. Nun musste sie gehen; ihr war, als wäre sie bereits gegangen.
    An diesem Abend kam Christine Gervais spät nach Hause. Sophie schlief auf dem Sofa, während im Fernsehen ein Basketballmatch lief. Madame Gervais schaltete den Apparat aus, und die plötzlich eingetretene Stille weckte Sophie auf.
    Â»Es ist spät«, entschuldigte sie sich.
    Sophie betrachtete die Silhouette im Mantel, die vor ihr stand. Sie murmelte ein dumpfes »Nein«.
    Â»Möchten Sie hier schlafen?«
    Kommt Madame Gervais spät zurück, bietet sie ihr immer an, dazubleiben. Lehnt Sophie das ab, bezahlt Madame Gervais ihr ein Taxi.
    In einem einzigen Augenblick hat Sophie wieder die Bilder dieses Abends an ihrem geistigen Auge vorüberziehen sehen – die Stille, die ausweichenden Blicke, Léo, der sich ernst und geduldig die Gutenachtgeschichte anhörte und dabei mit seinen Gedanken sichtlich woanders war. Und der sich den letzten Kuss mit so offensichtlichem Widerwillen von ihr geben ließ, dass sie sich selbst sagen
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