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Die Dornenvögel

Die Dornenvögel

Titel: Die Dornenvögel
Autoren: Colleen McCoullough
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I. TEIL 1915-1917
    MEGGIE
     
     
     
     
     
     
     
    Am 8. Dezember 1915 hatte Meggie Cleary ihren vierten Geburtstag. Nach dem Abräumen des Frühstücksgeschirrs drückte ihre Mutter ihr wortlos ein braunes Papierpäckchen in die Arme und befahl ihr, nach draußen zu gehen. So hockte Meggie sich hinter den Stechginster beim Vordertor und begann, ungeduldig und mit ungeschickten Fingern am Einwickelpapier zu zerren. Es roch schwach nach dem Wahine General Store, wo es so verwirrend viele Dinge zu kaufen gab. Der Geruch verriet ihr, daß - wunderbarerweise - wohl auch dieses Päckchen mit seinem Inhalt dort gekauft worden war. Ja, gekauft. Nichts von anderen Abgelegtes war es und auch nichts Hausgemachtes.
    Durch eine aufgerissene Ecke im Papier schimmerte es hell, fast wie Gold. Meggie attackierte die schützende Hülle heftiger. Lange Streifen von braunem Papier riß sie fort.
    »Agnes! Oh, Agnes!« sagte sie zärtlich und blickte verwirrt auf die Puppe, die da wie in einem zerrupften Nest lag. Ein Wunder, o ja. Den Wahine General Store hatte Meggie erst ein einziges Mal von innen gesehen, vor einer halben Ewigkeit: im Mai als Belohnung dafür, daß sie besonders brav gewesen war. Ihre Mutter neben sich, nahm sie bei der Fülle ringsum vor lauter Aufregung kaum etwas genauer wahr. Mit einer Ausnahme allerdings, und diese Ausnahme war Agnes.
    Die wunderschöne Puppe, gekleidet in eine Krinoline aus rosa Satin mit cremefarbenem Spitzenbesatz allüberall, saß auf dem Ladentisch, und Meggie taufte sie auf der Stelle Agnes. Von den Namen, die sie kannte, paßte einzig dieser für ein so makelloses Geschöpf. Während der folgenden Monate sehnte sie sich zwar nach Agnes, aber ohne jede Hoffnung. Meggie besaß keine Puppe und wußte nicht, daß kleine Mädchen und Puppen zusammengehörten. Zufrieden spielte sie mit den
    Sachen, die ihre Brüder fortgeworfen hatten, mit den Schleudern und den Pfeifen, mit den lädierten Soldaten. Wenn sie dabei schmutzig wurde, kümmerte sie das kaum. Daß Agnes zum Spielen da sein könnte, dieser Gedanke kam ihr überhaupt nicht. Sacht strich sie über das rosafarbene Kleid - wieviel schöner war es doch als alles, was sie bisher bei irgendeiner Frau gesehen hatte! - und hob die Gliederpuppe hoch. Nicht nur die Arme und die Beine ließen sich bewegen, wie Meggie herausfand, sondern auch der Kopf. Ja, sogar in der überaus schlanken Taille war Agnes beweglich. Ihr goldenes Haar türmte sich zu einer wunderbar hohen Frisur, die winzige Perlen zierten. Über den Spitzenbesatz des Halsausschnitts lugte ein Stückchen fahler Busen. Das wunderschöne, fein bemalte Gesicht, offenbar aus einer Art Keramikmasse bestehend, war unglasiert geblieben, so daß die zart getönte Haut eine matte, natürliche Schattierung besaß. Die blauen Augen, gleichsam umkränzt von Wimpern aus richtigem Haar, wirkten erstaunlich lebensecht. Auf einer der wie rötlich überhauchten Wangen befand sich ganz oben ein Schönheitsfleck. Die dunkelroten Lippen waren leicht geöffnet, so daß man die winzigen weißen Zähne sehen konnte. Meggie setzte sich die Puppe vorsichtig auf den Schoß, kreuzte behaglich die Füße und tat dann nichts - außer daß sie Agnes betrachtete.
    Und damit war sie auch noch beschäftigt, als Jack und Hughie durch das raschelnde Gras nah am Zaun herbeikamen. Dort wucherte es dicht, weil man mit der Sense so schlecht herangelangen konnte. Wie alle Cleary-Kinder, außer Frank, hatte Meggie rotes Haar, auffällig und verräterisch. Jack gab seinem Bruder einen Stoß in die Rippen und streckte triumphierend die Hand aus. Die Jungen grinsten einander an. Sofort trennten sie sich. Jetzt waren sie Soldaten, die einen Maori-Verräter in die Zange nahmen. Doch Meggie hätte sie ohnehin nicht gehört. Leise summend saß sie, völlig in die Betrachtung der schönen Agnes versunken.
    »Was hast du da, Meggie?« rief Jack, auf sie zustürzend. »Zeig’s uns!«
    »Ja, zeig’s uns!« Kichernd war Hughie auf der anderen Seite aufgetaucht.
    Meggie preßte die Puppe an sich und schüttelte den Kopf. »Nein, sie ist meine! Ich habe sie zum Geburtstag bekommen!« »Zeig sie uns, los schon! Wir wollen sie uns nur mal ansehen.« Stolz und Freude gewannen die Oberhand. Sie hielt die Puppe so, daß ihre Brüder sie sehen konnten. »Da, ist sie nicht schön? Sie heißt Agnes.« »Agnes? Agnes?« Jack tat, als müsse er sich erbrechen. »So ein blöder Name, da kommt’s einem ja hoch! Warum nennst du sie nicht
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