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Der kalte Hauch der Angst

Der kalte Hauch der Angst

Titel: Der kalte Hauch der Angst
Autoren: Pierre Lemaitre
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wenn er nicht antwortet, heißt das, er ist nicht da. Ganz einfach.
    Mist, wo kann dieser Bengel nur sein, wenn er nicht zu Hause ist? Die Tür kann er nicht allein öffnen. Seine Mutter hat ein Schließsystem angebracht, als er damals begonnen hat, überall umherzumarschieren, und sie Angst um ihn hatte. Er geht nicht ans Telefon, er kann nicht aus dem Haus gegangen sein – das ist so unmöglich wie die Quadratur des Kreises. Wo ist dieses schlimme Kind denn bloß?
    Nachdenken. Wie spät ist es? Halb zwölf.
    Auf dem Tisch liegen vereinzelte Gegenstände, die ihr aus der Tasche gefallen sind. Sogar ein Tampon. Wie siehtsie aus? An der Theke spricht der Kellner mit zwei Männern, sicherlich Stammgäste. Bestimmt reden sie über sie. Ihre Blicke kreuzen sich, wenden sich ab. Sie kann nicht hierbleiben. Sie muss gehen. Im Aufstehen nimmt sie alles, was auf dem Tisch liegt, stopft es in die Tasche und hastet zur Tür.
    Â»Eins zehn!«
    Sie dreht sich um. Die drei Männer schauen sie seltsam an. Sie wühlt in ihrer Tasche, holt mit Mühe zwei Münzen heraus, legt sie auf die Theke und geht.
    Das Wetter ist noch immer schön. Unweigerlich nimmt sie die Bewegungen auf der Straße wahr, Passanten, die vorübergehen, Autos, die vorbeifahren, Motorräder, die losfahren. Gehen. Gehen und nachdenken. Dieses Mal sieht sie Léo scharf vor sich, kann jedes Detail erkennen. Es ist kein Traum. Das Kind ist tot, und sie ist geflohen.
    Gegen Mittag müsste die Putzfrau kommen. Davor würde niemand die Wohnung betreten. Dann würde man die Leiche des Kindes finden.
    Also muss sie verschwinden. Sie muss sich vorsehen. Gefahr kann immer und überall drohen. Sie darf nicht an einem Ort bleiben, muss sich bewegen, weitergehen. Ihre Sachen packen, fliehen, schnell, bevor man sie findet. Sie muss so lange wegbleiben, bis sie nachgedacht hat. Verstanden hat. Wenn sie Ruhe hat, kann sie alles genau nachvollziehen. Und dann wird sie zurückkommen und alles erklären können. Aber jetzt muss sie erst mal weg. Wohin?
    Sie bleibt plötzlich stehen. Die Person hinter ihr rempelt sie an. Sie stammelt eine Entschuldigung. Sie steht einfach mitten auf dem Gehweg und blickt sich um. Auf dem Boulevard ist viel los. Und die Sonne ist sengend. Das Leben verliert ein wenig von seinem Irrsinn.
    Hier, der Blumenladen, das Möbelgeschäft. Schnell. Ihr Blick fällt auf eine Standuhr im Möbelladen: 11 Uhr 35. Sie eilt ins Haus, wühlt in der Tasche, zieht die Schlüssel heraus. Post im Briefkasten. Keine Zeit verlieren. Dritte Etage. Wieder die Schlüssel, der eine für den Riegel, der andere für das Schloss. Ihre Hände zittern, sie stellt die Tasche auf den Boden. Zweimal muss sie den Schlüssel ansetzen, sie versucht tief einzuatmen, endlich dreht er sich im Schloss, die Tür geht auf.
    Sie öffnet die Tür weit, bleibt auf der Schwelle stehen. Keine Sekunde hat sie daran gedacht, dass sie sich verrechnet haben könnte. Dass man sie bereits erwarten könnte … Im Treppenhaus ist es still. Das vertraute Licht in ihrer Wohnung fällt ihr bis vor die Füße. Sie steht starr da, hört aber nur das Klopfen ihres eigenen Herzens. Plötzlich zuckt sie zusammen – ein Schlüssel in einem Schloss. Rechts nebenan. Die Nachbarin. Ohne nachzudenken, stürzt sie hinüber. Doch die Tür schlägt zu, bevor sie die Frau noch ansprechen kann. Sophie hält in ihrer Bewegung inne, horcht. Die Leere, die so oft zum Verzweifeln ist, ist jetzt beruhigend. Langsam geht sie in das leere Schlafzimmer. Ein Blick auf den Wecker: 11 Uhr 40. Fast. Der Wecker ging noch nie genau. Aber geht er vor oder nach? Sie glaubt sich zu erinnern, dass er vorgeht. Sicher ist sie sich aber nicht.
    Alles kommt gleichzeitig in Gang. Sie nimmt ihren Koffer aus dem Schrank, stopft wahllos Sachen hinein, dann läuft sie ins Bad, rafft alles zusammen, was auf der Konsole steht, und wirft es in eine Kosmetiktasche. Dann ein Blick durchs Zimmer. Papiere! Im Sekretär: Pass, Geld. Wie viel hat sie? Zweihundert Euro. Das Scheckheft! Wo ist denn dieses verdammte Scheckheft? In meiner Tasche. Sie vergewissert sich. Lässt wieder den Blick durchs Zimmer schweifen. MeineJacke, meine Tasche. Die Fotos! Sie geht wieder zurück, zieht die oberste Kommodenschublade auf und nimmt das Album heraus. Ihr Blick fällt auf das gerahmte Hochzeitsfoto auf der
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