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Der kalte Hauch der Angst

Der kalte Hauch der Angst

Titel: Der kalte Hauch der Angst
Autoren: Pierre Lemaitre
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Kommode. Sie schnappt alles, wirft es in den Koffer und macht ihn zu.
    Angespannt drückt sie das Ohr an die Tür und horcht. Doch auch diesmal ist nur ihr Herzklopfen zu vernehmen. Sie legt beide Hände flach an die Tür. Sich konzentrieren. Sie hört nichts. Sie nimmt ihren Koffer und öffnet schnell die Tür. Niemand im Treppenhaus. Sie zieht die Tür hinter sich zu, sie macht sich nicht einmal die Mühe abzuschließen. Schnell läuft sie die Treppe hinunter. Ein Taxi kommt vorbeigefahren. Sie winkt es heran. Der Fahrer will ihr Gepäck in den Kofferraum legen. Keine Zeit! Sie wirft es auf den Rücksitz und steigt ein.
    Der Mann fragt: »Wohin?«
    Sie weiß es nicht. Überlegt kurz.
    Â»Gare de Lyon.«
    Als das Taxi losfährt, blickt sie durch die Rückscheibe. Nichts Besonderes, ein paar Autos, Passanten. Sie atmet durch. Sie sieht sicherlich aus wie eine Verrückte. Der Fahrer beobachtet sie misstrauisch im Rückspiegel.
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    M ERKWÜRDIG, WIE IN N OTSITUATIONEN die Gedanken fast unweigerlich ineinandergreifen.
    Â»Halt!«
    Ãœberrascht von diesem Befehl, bremst der Fahrer scharf.Sie sind noch nicht einmal hundert Meter gefahren. Als sich der Fahrer umdreht, ist sie bereits ausgestiegen.
    Â»Komme gleich wieder. Warten Sie hier!«
    Â»Also, das passt mir jetzt nicht gerade … «, meint der Fahrer.
    Er betrachtet den Koffer auf dem Rücksitz. Weder der Koffer noch die Kundin flößen ihm viel Vertrauen ein. Sie überlegt. Sie braucht diesen Mann, und alles ist nun so kompliziert … Sie macht ihre Handtasche auf, zieht einen 50-Euro-Schein heraus und reicht ihn dem Fahrer.
    Â»Genügt das?«
    Er sieht den Schein an, nimmt ihn aber nicht.
    Â»Ja, gut, gehen Sie schon. Aber beeilen Sie sich.«
    Sie eilt über die Straße in die Bankfiliale. Der Raum ist fast leer. Hinter dem Schalter sieht sie ein Gesicht, das sie nicht kennt, eine Frau, aber Sophie kommt ja nur selten hierher. Sie zieht ihr Scheckheft heraus und legt es auf den Schalter.
    Â»Ich möchte gern meinen Kontostand wissen.«
    Die Angestellte blickt nun demonstrativ auf die Wanduhr, nimmt das Scheckheft, tippt etwas in den Computer und betrachtet ihre Nägel, während der Drucker rattert. Ihre Nägel und ihre Armbanduhr. Der Drucker scheint eine außerordentlich schwierige Aufgabe zu bewältigen – er braucht fast eine Minute, bis er ein Stück Papier mit zehn Zeilen Text und Zahlen ausspuckt. Die einzige Zahl, die Sophie interessiert, ist die letzte.
    Â»Und auf meinem Sparbuch?«
    Die Angestellte seufzt.
    Â»Haben Sie die Nummer?«
    Â»Nein, bedaure, ich weiß sie nicht auswendig …«
    Sophie sieht wirklich bedrückt aus. Sie ist es auch. DieUhr zeigt 11 Uhr 56. Sie ist nun die einzige Kundin. Der Angestellte am anderen Schalter, ein sehr großer Mann, ist aufgestanden, quer durch den Raum gegangen und lässt nun die Rollos herunter. Das Tageslicht wird nach und nach durch künstliches, klinisches Licht ersetzt. Mit diesem diffusen, fahlen Schein senkt sich eine gedämpfte, vibrierende Stille auf den Raum. Sophie fühlt sich nicht gut. Überhaupt nicht gut. Der Drucker hat wieder gerattert. Sie blickt auf die zwei Zahlen.
    Â»Ich möchte sechshundert vom Girokonto abheben und … sagen wir … fünftausend vom Sparkonto …?«
    Sie hat den Satz beendet wie eine Frage, wie eine Bitte um Erlaubnis. Das muss sie abstellen. Selbstsicherheit zeigen.
    Ein leises panisches Zischen auf der anderen Seite des Schalters.
    Â»Wollen Sie Ihre Konten auflösen?«, fragt die Angestellte.
    Â»O nein … (Vorsicht! Du bist die Kundin, du triffst die Entscheidungen!) Nein, ich brauche lediglich liquide Mittel.« (Das ist gut, das mit den liquiden Mitteln, das klingt seriös, erwachsen.)
    Â»Es ist nur so, dass …«
    Die Angestellte sieht nacheinander Sophie an, das Scheckheft, das diese in der Hand hält, die Wanduhr, deren Zeiger sich auf zwölf zubewegen, den Kollegen, der sich vor der Glastür bückt, sie abschließt, das letzte Rollo herunterlässt und die beiden Frauen nun mit schlecht verhohlener Ungeduld anschaut. Sophie ist unsicher, wie sie weiter vorgehen soll.
    Die Sache erscheint ihr nun sehr viel schwieriger als erwartet. Die Filiale schließt, es ist Mittag, der Taxifahrer muss die heruntergelassenen Rollos gesehen haben.
    Sie ringt
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