Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stimmen der Nacht

Stimmen der Nacht

Titel: Stimmen der Nacht
Autoren: Thomas Ziegler
Vom Netzwerk:
1
----
Er hätte
damit
rechnen müssen.
Er hätte
wissen müssen,
    daß die Zeit keine Bedeutung für sie besaß und daß sie noch immer wartete, geduldig wartete, seit vier Jahren schon, seit diesen letzten vier Jahren, in denen sie geredet hatte und geredet, immer nur geredet, in den Nischen und in den Winkeln, hinter den Fußleisten versteckt. Und dann diese Fragen, diese immer wiederkehrenden Fragen, die viel zu spät gestellt wurden und auf die es keine Antworten mehr gab, trotz der Hartnäckigkeit, mit der sie nach Antworten verlangten.
    Gulf räusperte sich, und er wünschte, die Antworten zu kennen, oder auch nur eine, nur ein Wort, irgendein Wort, mit dem er sie zum Schweigen bringen konnte, einen Bannspruch vielleicht oder einen binären Code, irgend etwas … Einen Hammer, dachte er. Das ist es. Ich brauche einen Hammer, einen großen, schweren Schmiedehammer, um ihr den Schädel einzuschlagen. Feuer hat nicht genügt. Ein Hammer muß her. Stahl ist hart und zuverlässig. Es könnte gelingen – wenn ich sie finde.
    Aber er wußte, daß er sie nicht finden würde. Die Hubschrauberkanzel war groß und bot mit ihrer Täfelung aus Dioden, Druckknöpfen, Monitoren, LED-Anzeigen und Kippschaltern genug Verstecke für die nur stecknadelkopfgroße Klette. Er warf einen Blick nach draußen, auf die Wolkendecke, die sich trüb und lückenlos wie ein schmutziger Regenschirm über die Ostküste spannte, und es gab für ihn keine Möglichkeit, den Fragen und Klagen der Elektrischen Klette zu entrinnen.
    »Du hast mir das Leben zur Hölle gemacht, Jakob«, sagte die Klette. »Gott, es ist wirklich wahr, du wolltest mich tot sehen, und du bist erst zufrieden gewesen, als ich starb und still dalag, blaß und weiß, so sterbensbleich im Totenkleid auf rotem Samt im Eichensarg. Ich mußte taub und kalt sein, damit du frei sein konntest, frei von mir und deinen Lügen, deinen Ausflüchten und Entschuldigungen … Du hast mich gehaßt, und Haß ist das einzige wahre Gefühl, das dir in deinem Leben geblieben ist. Es lag nicht an mir, Jakob. Du weißt, daß es nicht an mir lag. Es war nicht meine Schuld …«
    Gulf lächelte starr, nicht mit den Augen, nur mit dem Mund. Es war ein videofones Lächeln, eine bloße Muskelbewegung, eine Änderung des Mienenspiels ohne jegliche Tiefe, flach und televisionär wie Fernsehbilder, ein Lächeln aus den Aufnahmestudios von NBC.
    Natürlich war es nicht deine Schuld, dachte er. Es ist nie deine Schuld gewesen. Und jetzt bist du tatsächlich kalt und taub, liegst starr und bleich im Eichensarg, aber du bist nicht stumm, Elizabeth. Du hast dafür gesorgt, daß du selbst nach deinem Tod noch bei mir bleibst. Abenteuer Live, dachte er bitter. Die Sendung ist abgesetzt, aber die Show geht weiter.
    Er lehnte sich zurück und schloß die Augen. Neben ihm, ein Schatten im Zwielicht der Dioden, fast eins mit dem Lederbezug des Sitzes, steuerte den Pilot den Hubschrauber durch den grauen Abend, und obwohl Gulf ihn jetzt nicht ansah, spürte er die Gegenwart des Mannes so deutlich wie die Gegenwart der Elektrischen Klette. Die Stimme der Klette war fein, ein Wispern, fast unhörbar im Lärm der Rotoren, aber es war unzweifelhaft Elizabeths Stimme.
    »Was hätte aus uns werden können! Was lag alles noch vor uns! So viele Tage und so viele Nächte: kalte Winternächte im Knisterlicht des Kaminfeuers, und dazu Musik von Vivaldi und eine gute Zigarette zum handgewärmten Cognac. Und diese heißen Sommertage im hohen Gras, wie jener Sommertag und jenes Gras in Niederkalifornien. Erinnerst du dich, Jakob? Erinnerst du dich? Heller Himmel über grünem Land. Kein Grau wie in New York, kein Stein wie in Manhattan. Nichts als Erde, frische Erde, und die Erde riecht gut im Sommer. Ich weiß noch, wie sie in Kalifornien roch; wild und roh und würzig, die Krumen schwarz und fett. Ich weiß noch, wie du deine Hände in diese schwarze Erde gegraben hast, und ich habe deine Gedanken gesehen. Sie standen dir im Gesicht geschrieben, diese schrecklichen Gedanken, und ich mußte sie lesen, ob ich wollte oder nicht: Wann liegt sie endlich starr und bleich zehn Meter tief im Totenreich? …«
    Der Pilot drehte den Kopf, und für einen Moment verlieh ihm sein Visierhelm ein käferartiges Aussehen, eine maschinelle Nüchternheit, so nüchtern und maschinell wie der Hubschrauber selbst. Mit einem Mal, im Motorengedröhn und im oszillierenden Farbenspiel auf den Monitoren der Bordkontrollen, stellte sich eine
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher