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Die Erfindung der Einsamkeit

Die Erfindung der Einsamkeit

Titel: Die Erfindung der Einsamkeit
Autoren: Paul Auster
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An einem Tag ist noch das Leben da. Zum Beispiel ein Mann, bei bester Gesundheit, nicht einmal alt, nie krank gewesen. Alles ist, wie es war, wie es immer sein wird. Er lebt von einem Tag zum anderen, kümmert sich um seine Angelegenheiten, träumt nur von dem Leben, das vor ihm liegt. Und dann kommt plötzlich der Tod. Der Mann stößt einen leisen Seufzer aus, sackt auf seinem Stuhl zusammen, und das ist der Tod. Sein plötzliches Eintreten lässt keinen Raum für Gedanken, gibt dem Verstand keine Chance, nach einem vielleicht tröstlichen Wort zu suchen. Uns bleibt nichts anderes als der Tod, die unwiderrufliche Tatsache unserer Sterblichkeit. In einen Tod nach langer Krankheit können wir uns fügen. Selbst einen Unfalltod können wir dem Schicksal zuschreiben. Aber wenn ein Mensch ohne ersichtlichen Grund stirbt, wenn ein Mensch einfach stirbt, weil er ein Mensch ist, bringt uns das so nahe an die unsichtbare Grenze zwischen Leben und Tod, dass wir gar nicht mehr wissen, auf welcher Seite wir uns befinden. Leben wird Tod, und es ist, als hätte dieser Tod dieses Leben schon immer besessen. Tod ohne Vorankündigung. Soll heißen: das Leben hört einfach auf. Und es kann jederzeit aufhören.

    Die Nachricht vom Tod meines Vaters erreichte mich vor drei Wochen. Es war Sonntagmorgen, und ich machte meinem kleinen Sohn Daniel gerade in der Küche das Frühstück. Meine Frau lag noch oben im Bett, warm unter der Steppdecke, und genehmigte sich den Luxus einiger zusätzlicher Stunden Schlaf. Winter auf dem Land: eine Welt aus Schweigen, Holzrauch und Helligkeit. Ich war in Gedanken ganz mit dem Text beschäftigt, den ich am Abend zuvor geschrieben hatte, und ich dachte schon an den Nachmittag, wenn ich mich wieder an die Arbeit machen könnte. Dann läutete das Telefon. Ich wusste sofort, dass das nichts Gutes verhieß. Niemand ruft am Sonntagmorgen um acht Uhr an, wenn er keine unaufschiebbare Nachricht hat. Und unaufschiebbare Nachrichten sind immer schlechte Nachrichten.
    Ich konnte keinen einzigen erhebenden Gedanken fassen.

    Noch ehe wir unsere Taschen packten und zu der dreistündigen Fahrt nach New Jersey aufbrachen, wusste ich, ich würde über meinen Vater schreiben müssen. Ich hatte keinen Plan, keine präzise Vorstellung davon, was das bedeutete. Ich kann mich nicht einmal erinnern, mich dazu entschlossen zu haben. Es war einfach da, eine Gewissheit, eine Verpflichtung, die sich mir in dem Augenblick auferlegte, da ich die Nachricht empfing. Ich dachte: Mein Vater ist weg. Und wenn ich nicht schnell handle, wird sein ganzes Leben mit ihm verschwinden.
    Wenn ich jetzt, selbst aus diesem kurzen Abstand von nur drei Wochen, daran zurückdenke, empfinde ich das als ziemlich eigenartige Reaktion. Ich hatte mir immer vorgestellt, der Tod würde mich betäuben, vor Kummer lähmen. Doch jetzt, nachdem es geschehen war, vergoss ich keine Tränen, hatte ich nicht das Gefühl, die Welt um mich her würde einstürzen. Auf eine seltsame Weise war ich ungewöhnlich bereit, diesen Tod trotz seines plötzlichen Eintretens zu akzeptieren. Was mich beunruhigte, war etwas anderes, etwas, das mit dem Tod oder meiner Reaktion darauf nichts zu tun hatte: die Erkenntnis, dass mein Vater keine Spuren hinterlassen hatte.
    Er hatte keine Frau, keine Familie, die auf ihn angewiesen war, niemanden, dessen Leben sich durch seine Abwesenheit geändert hätte. Vielleicht ein kurzer Augenblick des Schreckens bei den wenigen Freunden, Ernüchterung, mindestens ebenso sehr durch den Gedanken an den launischen Tod wie durch den Verlust ihres Freundes, gefolgt von einer kurzen Zeit der Trauer, und dann nichts mehr. Am Ende würde es so sein, als hätte er niemals gelebt.
    Schon vor seinem Tod war er abwesend gewesen, und die Leute, die ihm am nächsten standen, hatten diese Abwesenheit längst zu akzeptieren und darin sein eigentliches Wesen zu sehen gelernt. Nun, da er tot war, würde es der Welt nicht schwerfallen, mit der Tatsache zurechtzukommen, dass er für immer weg sein würde. Seine Lebensweise hatte die Welt auf seinen Tod vorbereitet – war eine Art vorweggenommener Tod gewesen –, und falls und wenn man sich seiner erinnerte, dann nur undeutlich, allenfalls undeutlich.
    Bar jeder Leidenschaft, weder für eine Sache noch eine Person noch eine Idee; unfähig oder nicht willens, sich unter gleich welchen Umständen zu offenbaren, war es ihm gelungen, sich vom Leben fernzuhalten, jegliches Eintauchen in den Daseinsstrom zu
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