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Der Feuerstein

Der Feuerstein

Titel: Der Feuerstein
Autoren: Rae Carson
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dass ich ihm irgendwie helfen kann, aber auch befremdlich. »Ich habe das Gefühl«, sage ich nun etwas mutiger, »dass der König des reichsten Landes der Erde keine Schwierigkeiten haben dürfte, Freunde zu finden.«
    Er sieht überrascht auf. »Deine Schwester sagte schon, dass du die Angewohnheit hast, schnell zum Kern einer Sache zu kommen.«
    Fast verziehe ich verärgert das Gesicht, aber da fällt mir ein, dass Alodias Worte vielleicht gar nicht kritisch gemeint waren.
    »Sag mir, Lucero-Elisa«, beginnt er, und seine Lippen verziehen sich zu diesem sanften Lächeln, das mir bereits vertraut erscheint, »ist es leicht für dich, Freunde zu finden? Als Prinzessin? Als Trägerin des einzigen Feuersteins seit hundert Jahren?«
    Ich weiß genau, was er meint. Der Sohn des Conde, der meine Schwester und mich küssen wollte, fällt mir wieder ein, und ich sage: »Du traust niemandem, nicht wahr?«
    Er schüttelt den Kopf. »Nur sehr wenigen.«

    Ich nicke. »Ich vertraue meiner Kinderfrau Ximena und meiner Kammerzofe Aneaxi. Und auch Juana-Alodia, in gewisser Weise.«
    »Was meinst du damit, in gewisser Weise?«
    Vorsichtig suche ich nach Worten. »Sie ist meine Schwester. Sie will das Beste für Orovalle, aber …« Irgendetwas lässt mich verstummen. Vielleicht ist es die Intensität seiner Zimtaugen, die sich nun verdunkeln, bis sie fast schwarz sind. In Gegenwart meiner Kinderfrau zögere ich nie, über Juana-Alodia herzuziehen. Aber vor Alejandro …
    »Aber?«
    Er sieht mir so fragend ins Gesicht, wirkt so interessiert an dem, was ich sagen will, dass ich schließlich damit herausplatze: »Sie hasst mich.«
    König Alejandro schweigt dazu. Ich spüre, dass ich ihn enttäuscht habe, und am liebsten würde ich meine Worte wieder in meinen Mund hineinsaugen.
    Dann sagt er endlich: »Wieso glaubst du das?«
    Ich antworte nicht. Einige Kerzen sind inzwischen erloschen, und ich bin froh darüber, weil es leichter ist, im zuckenden, dämmrigen Licht seinen Augen zu entgehen.
    »Elisa?«
    Erzähl ihm vom Feuerstein, mahne ich mich im Stillen. Sag ihm, dass Alodia neidisch ist. Dass sie zornig ist, weil ich schon sechzehn bin, aber noch immer keine Anzeichen dafür erkennen lasse, dass ich demnächst mein Schicksal als die Auserwählte Gottes erfüllen werde. Aber sein offener Blick verlangt Ehrlichkeit, und so erzähle ich ihm, was ich noch niemandem anvertraut habe.
    »Ich habe unsere Mutter umgebracht.«

    Seine Augen verengen sich leicht. »Was meinst du damit?«
    Meine Lippen zittern, aber ich atme tief durch die Nase ein und distanziere mich dann von meinen eigenen Worten. »Alodia sagt, Mamá hatte vor mir zwei Fehlgeburten. Als sie dann wieder schwanger wurde, blieb sie im Bett, um sich zu schonen. Sie betete zu Gott um einen Sohn, einen Prinzen.« Ich muss für einen Moment die Zähne zusammenbeißen, bevor ich fortfahren kann. »Es war eine schwierige Schwangerschaft, und sie war schwach, und nachdem ich geboren wurde, war da sehr viel Blut. Alodia sagt, als man mich in ihre Arme legte, sah Mamá, dass ich ein Mädchen war. Noch dazu dunkelhäutig und dick.« Meine verkrampften Kiefermuskeln schmerzen. »Dann überkam sie tiefe Trauer, und sie hauchte ihr Leben aus.«
    »Das hat deine Schwester gesagt? Wann war das? Wie lange ist das her?« Er bedrängt mich mit seinen Fragen, doch seine Stimme bleibt freundlich, als sei er tatsächlich um mich besorgt.
    Aber ich kann mich nicht erinnern.
    Er hebt eine Augenbraue. »Vor einem Jahr?«, hakt er nach. »Vor mehreren? Vielleicht, als ihr beide noch sehr klein wart?«
    Stirnrunzelnd versuche ich, diese Szene zeitlich einzuordnen. Es war, als Alodia und ich noch gemeinsam unterrichtet wurden. Unsere Köpfe berührten sich beinahe, als wir über einer schimmligen Abschrift der Allgemeinen Lehre ergebenen Dienens brüteten. Als Meister Geraldo sie aufforderte, die Geschichte des Feuersteins zu erzählen, unterbrach ich sie, indem ich die entsprechende Passage aus der
Schrift Wort für Wort zitierte. Nach dem Unterricht folgte mir Alodia die Treppe zur Küche hinunter und erzählte mir von Mamás Tod.
    Ich will nicht, dass er erfährt, wie lange ich mich schon mit dieser Erinnerung quäle, deswegen bleibe ich stumm.
    Alejandro sieht mich unverwandt an, und ich möchte am liebsten unter die Decke mit dem Sonnenkranz schlüpfen. »Meinst du, dass sie dich noch immer für den Tod eurer Mutter verantwortlich macht?«
    »Sie hat mir keinen Anlass gegeben, etwas anderes
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