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Der Feuerstein

Der Feuerstein

Titel: Der Feuerstein
Autoren: Rae Carson
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und jagen die befreiten Knöpfe. »Ich bräuchte eine Woche«, murmelt Ximena vor sich hin. »Nur eine Woche, um dich richtig einzukleiden. Eine königliche Hochzeit braucht doch eine gewisse Vorbereitungszeit!« Ja, auch das macht mir Angst, dass alles so plötzlich kommt.
    Das Mieder sitzt jetzt so locker, dass ich an meinen Rücken fassen und die verbliebenen Knöpfe selbst öffnen kann. Dann lasse ich den Stoff von den Armen gleiten und versuche, das terno über die Hüften hinunterzuschieben, aber der Stoff reißt weiter ein, also ziehe ich es mir lieber über den Kopf. Achtlos werfe ich das Kleid beiseite, und es ist mir egal, dass es mein Bett verfehlt und zerknüllt auf dem Fußboden liegen bleibt. Stattdessen streife ich nun ein grobes Wollkleid über. Es kratzt auf der Haut, aber es ist riesengroß und beruhigend verhüllend.
    Während meine Kammerfrauen weiter nach den Knöpfen suchen, wende ich mich zur Tür und gehe hinunter zur Küche. Wenn mir mein Kleid sowieso nicht passt, kann ich zumindest versuchen, meinen schmerzenden Kopf und meinen knurrenden Magen zu besänftigen, indem ich mir eine warme Pastete genehmige.
    Meine ältere Schwester Juana-Alodia hebt den Kopf, als ich eintrete. Eigentlich hätte ich erwartet, dass sie mir zumindest zum Geburtstag gratuliert, aber sie wirft lediglich einen Blick auf mein Kleid und verzieht dann das Gesicht. Sie
sitzt am Rand der Feuerstelle, den Rücken gegen den bauchigen Ofen gelehnt. Dabei hält sie die Beine elegant übereinandergeschlagen und lässt ihren schmalen Knöchel vor und zurück wippen, während sie ihr Brot knabbert.
    Wieso ist nicht sie es, die heute heiratet?
    Der Küchenmeister lächelt mir unter seinem mehlbestäubten Schnurrbart zu, als er mich erblickt, und schiebt mir einen Teller zu, auf dem eine Pastete aus golden gebackenem Blätterteig liegt, mit gemahlenen Pistazien bestäubt und mit Honig überzogen. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen. Ich sage ihm, dass ich gern zwei davon hätte.
    Mit dem Teller setze ich mich zu Alodia und bemühe mich, nicht mit dem Kopf gegen die Kupfertiegel zu stoßen, die überall von der Decke hängen. Meine Schwester wirft einen missbilligenden Blick auf das Gebäck. Sie muss nicht einmal die Augen verdrehen, ich fühle mich auch so, als ob sie es täte, und ich starre sie wütend an. »Elisa«, setzt sie an, weiß aber dann nicht mehr, was sie sagen soll, und ich ignoriere sie demonstrativ, indem ich mir die knusprige Pastete in den Mund schiebe. Fast augenblicklich lässt mein Kopfschmerz nach.
    Meine Schwester hasst mich. Das weiß ich schon seit Jahren. Meine Kinderfrau Ximena sagt, der Grund dafür sei, dass ich von Gott erwählt wurde, um ihm zu dienen, und Juana-Alodia eben nicht. Gott hätte sich für sie entscheiden sollen, sie ist sportlich und vernünftig, elegant und kräftig. Besser als zwei Söhne, sagt Papá. Ich betrachte sie, während ich meine Pastete esse, ihr schimmernd schwarzes Haar, die fein gemeißelten Wangenknochen und die geschwungenen Brauen, die ein Paar selbstbewusst dreinschauende Augen einrahmen. Ich hasse sie mindestens genauso sehr wie sie mich.

    Wenn Papá einmal stirbt, wird sie Königin von Orovalle. Sie ist ganz wild darauf, eines Tages zu herrschen, ich aber nicht, und von daher ist es aberwitzig, dass ich durch meine Ehe mit König Alejandro Königin eines Landes werde, das doppelt so groß und doppelt so reich ist wie das unsere. Ich weiß nicht, wieso ich diejenige sein muss, die heiratet. Der König von Joya d’Arena hätte sicherlich die schöne Tochter ausgewählt, die königliche. Mein Mund erstarrt, während ich kaue, als mir klar wird, dass er das wahrscheinlich auch getan hat.
    Ich bin das Gegenangebot.
    Wieder drohen mir die Tränen in die Augen zu steigen, und ich beiße die Zähne zusammen, bis mein Gesicht schmerzt, denn lieber würde ich von Pferden zertrampelt, als vor meiner Schwester zu weinen. Ich kann mir vorstellen, was sie gesagt haben, damit er in den Handel einwilligt. Sie wurde erwählt, um zu dienen. Nein, noch hat sich nichts ereignet, aber es wird bald etwas geschehen, da sind wir sicher. Jawohl, sie spricht die Lengua Classica fließend. Nein, schön ist sie nicht, aber klug. Die Dienerschaft liebt sie. Und sie kann sehr gut sticken, zum Beispiel Pferde.
    Inzwischen hat er sicherlich viele Dinge gehört, die der Wahrheit eher entsprechen, und er weiß, dass ich mich leicht langweile, dass meine Kleider bei jeder Anprobe weiter
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