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Der Feuerstein

Der Feuerstein

Titel: Der Feuerstein
Autoren: Rae Carson
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ausgelassen werden müssen und dass ich im Wüstensommer wie ein Tier schwitze. Ich bete darum, dass wir auf irgendeine Weise zueinanderpassen werden. Vielleicht hatte er als Kind die Pocken. Vielleicht kann er kaum gehen. Ich wünsche mir einen Grund, aus dem es mir egal sein wird, wenn er sich angeekelt abwendet.

    Alodia hat ihr Brot aufgegessen. Sie steht auf und streckt sich, führt mir genussvoll ihre Grazie und Körperlänge vor Augen. Dann wirft sie mir einen seltsamen Blick zu – Mitleid vermutlich – und sagt: »Lass mich wissen, wenn … wenn du heute Hilfe brauchst. Bei den Vorbereitungen.« Bevor ich ihr eine Antwort geben kann, eilt sie davon.
    Ich nehme mir die zweite Pastete. Sie schmeckt nach nichts mehr, aber es beruhigt mich, etwas in der Hand zu haben.
     
    Einige Stunden später stehe ich mit Papá vor der Basilika und wappne mich für meinen Brautgang. Die Türen ragen hoch vor mir empor, und der eingravierte Sonnenkranz der de Riquezas in ihrer Mitte blinzelt unheilvoll. Hinter den Türen ist das Raunen der Menge zu hören, die sich im Audienzsaal versammelt hat. Es überrascht mich, dass so viele gekommen sind, obwohl die Zeremonie so kurzfristig anberaumt wurde. Vielleicht ist es aber auch gerade diese Eile, die sie neugierig gemacht hat. Sie schmeckt nach Geheimnissen und Verzweiflung, nach schwangeren Prinzessinnen oder verdeckten Abkommen. Das alles interessiert mich nicht. Meine Gedanken kreisen nur um eines: dass König Alejandro hässlich sein möge.
    Mein Papá und ich warten auf das Zeichen des Herolds. Papá hat bisher nicht daran gedacht, mir zum Geburtstag zu gratulieren. Doch dann sehe ich plötzlich Tränen in seinen Augen schimmern. Vielleicht ist er tatsächlich traurig, weil er mich nun gehen lassen muss. Oder er fühlt sich schuldig.
    Überrascht ziehe ich die Luft ein, als er mich an die Brust drückt und fest umfängt. Es ist eine erstickende Umarmung,
aber ich erwidere sie innig. Papá ist hochgewachsen und schlaksig wie Juana-Alodia. Ich weiß, dass er meine Rippen nicht fühlen kann, aber ich spüre seine. Seit Invierne immer wieder unsere Grenzen bedroht, hat er kaum noch gegessen.
    »Ich erinnere mich noch gut an den Tag deiner Widmung«, flüstert Papá. Diese Geschichte habe ich sicher schon hundertmal gehört, aber noch nie aus seinem Mund. »Du lagst in deiner Wiege, in weiße Seide mit roten Schleifen gehüllt. Der Hohepriester beugte sich mit einem Fläschchen geweihten Wassers über dich und wollte es dir auf die Stirn träufeln, um dich auf den Namen Juana-Anica zu taufen.
    Aber dann strömte das Himmelslicht durch die Empfangshalle, und der Priester schüttete die Flüssigkeit vor Schreck auf das Kissen. Mir war sofort klar, dass es das Himmelslicht war, denn es war weiß, nicht gelb wie Fackelschein, und es war weich und warm. Als ich es sah, wollte ich lachen und beten, beides zur gleichen Zeit.« Die Erinnerung lässt ihn auch jetzt lächeln, ich höre es in seiner Stimme, in der auch Stolz mitschwingt. Mir wird die Brust eng. »Dann bildete das Licht einen Strahl, der deine Wiege erhellte, und du lachtest.« Er tätschelt mir den Kopf und streicht dann über das Linnen meines Schleiers. Ich höre mich seufzen.
    »Du warst erst sieben Tage alt, aber du hast gelacht und gelacht. Juana-Alodia war die Erste, die auf ihren unsicheren Beinchen zu dir hinüberlief, nachdem das Licht wieder verloschen war. Deine Schwester schlug deine samtenen Windeln zurück, und wir sahen den Feuerstein, der in deinem Bauchnabel eingebettet war, warm und lebendig, aber blau und geschliffen, hart wie ein Diamant. Daraufhin beschlossen wir, dich Lucero-Elisa zu nennen.« Himmelslicht, von Gott
erwählt. Seine Worte erdrücken mich ebenso wie seine Umarmung. Mein ganzes Leben lang hat man mich stets daran erinnert, dass ich zum Dienen bestimmt bin. Dass ich eine Aufgabe erfüllen muss.
    Trompeten erschallen, gedämpft durch die Türen. Papá lässt mich los und legt mir den Linnenschleier über den Kopf. Mir ist das recht; ich möchte nicht, dass jemand mein vor Entsetzen versteinertes Gesicht sieht oder den Schweiß, der sich auf meiner Oberlippe sammelt. Die Türen öffnen sich und geben den Blick frei auf den großen Saal mit der Kuppeldecke und den bemalten Ziegeln. Es riecht nach Rosen und Weihrauch. Viele Hundert Gestalten erheben sich von ihren Bänken, allesamt in hellen Hochzeitsfarben gekleidet. Durch den Schleier sehen sie aus wie Mamás Blumengarten  –
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