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Gefährlich nah

Titel: Gefährlich nah
Autoren: C. Bertelsmann
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EINS
    »Ich will da nicht hin«, murmelte Scott.
    »Dann geh eben nicht«, bemerkte Kieran. »Geh nach Hause und lass uns in Ruhe. Hör einfach auf, ständig rumzujammern, okay?«
    »Lass ihn, Kieran«, wies Dee ihn zurecht. »Das bringt uns auch nicht weiter.«
    Scott war immer ängstlicher und ängstlicher geworden, seitdem sie das Haus ihrer Großeltern verlassen hatten und sich nach und nach der Schule näherten. Jetzt war das Hauptgebäude schon deutlich zu sehen, und Scott war so blass, dass Dee sicher war, er würde gleich loskotzen.
    »Jetzt reiß dich mal zusammen, Scott«, sagte sie freundlich, aber bestimmt. »Es wird schon alles gut werden. Ich halte in der Pause und beim Mittagessen nach dir Ausschau.«
    »Mannomann«, sagte Kieran. »Er ist elf, Dee, nicht fünf! Und du bist es, die uns nicht weiterbringt. Wenn du so weitermachst, dann heult er gleich los.«
    Und als hätte er nur auf dieses Stichwort gewartet, fing Scott an zu heulen. Keine stillen Tränen im Verborgenen, sondern lautes und heftiges Schluchzen, das die Aufmerksamkeit der anderen Schüler erregte, die der Schule entgegenströmten.
    »Halt die Klappe«, sagte Kieran und packte seinen
Bruder am Nacken. »Willst du dich gleich zur Zielscheibe machen oder was? Dann kannst du dir ebenso gut das Wort ›Opfer‹ auf die Stirn tätowieren lassen, so wie du dich hier benimmst.«
    Zielscheibe. Opfer. Die Worte trafen Dee wie Faustschläge und trieben auch ihr fast die Tränen in die Augen. Wie konnte Kieran nur so dumm, so unsensibel sein? Aber seine Worte schienen Wirkung zu haben. Entweder das oder der Klammergriff, den Kieran jetzt langsam lockerte, hatten etwas bewirkt. Erstaunlicherweise schien Kierans grobe Art Scott gar nichts auszumachen. Kein anderer hätte Scott so hart anfassen dürfen …
    »Er kann mit mir kommen«, sagte Kieran. »Aber nur heute, okay?«
    Dee zwang sich zu lächeln. Sie fühlte sich selbst nicht viel besser als Scott. Die Schule hatte einen guten Eindruck gemacht, als sie sie im Juni zusammen mit ihren Großeltern angeschaut hatten. Alles bestens. Sie war kleiner als ihre alte Schule in Liverpool und sie war von Feldern umgeben anstatt von Häusern und lärmendem Verkehr. Die Schule hatte einen guten Ruf und war stolz auf den freundlichen, persönlichen Umgangston, der hier herrschte, jedenfalls hatte der Rektor das gesagt. Aber er musste schließlich so was über seine Schule sagen, oder? Jetzt, während alle sich hineindrängten und aufgeregt den ersten Schultag nach den Ferien erwarteten, wirkte die Schule überhaupt nicht mehr freundlich. Alles war angespannt, fremd, einschüchternd. Kein Wunder, dass Scott dabei Panik kriegte.

    Kieran dagegen schien das alles gar nichts auszumachen. Wenn man ihm zusah, wie er Scott freundlich in Richtung Schulhof schubste, konnte man kaum glauben, dass die beiden Brüder waren. Kieran sah gut aus; er war groß für sein Alter und hatte kurze Haare und eine Art, die Leute aus seinen intensiv blauen Augen anzuschauen, dass jedem gleich klar war, dass man sich lieber nicht mit ihm anlegen sollte. Während Scott … Scott war mehr so wie sie und Dad. Sie hatten nichts Bemerkenswertes an sich. Durchschnittlich groß, aschblonde Haare, graublaue Augen. Unkomplizierte Art. Sie gehörten zu der Sorte von Leuten, die sich überall einfach einfügte, mit der Masse mitlief, jedenfalls war es immer so gewesen.
    Dee wartete, bis die Jungen um die Ecke verschwanden, dann wandte sie sich zu einem der neueren Gebäude auf der rechten Seite. Irgendwo da drin war der Gemeinschaftsraum für die Oberstufe, aber die engen, beige gestrichenen Flure sahen alle so verwirrend gleich aus, dass sie sich nicht mehr daran erinnern konnte, welchen sie entlanggehen musste. Sie war gerade dabei zu überlegen, wen sie denn nun ansprechen und fragen sollte, als ihr jemand auf die Schulter tippte. Sie drehte sich um und sah ein Mädchen mit kurzen rotbraunen Haaren und sehr müden braunen Augen.
    »Dee!«, rief das Mädchen aus, als wären sie alte Freundinnen und nicht etwa zwei, die sich erst einmal gesehen hatten, vor zwei Monaten. Damals war dieses Mädchen Dee als Mentorin zugeteilt worden, die ihr helfen sollte, sich einzuleben.

    »Oh, hallo, Hazel«, sagte Dee, die erleichtert war, ein bekanntes Gesicht zu sehen, und hoffte, dass Scotts Mentor sich ebenso gewissenhaft um ihn kümmerte.
    »Komm mit, hier entlang«, sagte Hazel gähnend. »Sorry! Wir sind erst heute Morgen um vier aus dem Urlaub
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