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Der Feuerstein

Der Feuerstein

Titel: Der Feuerstein
Autoren: Rae Carson
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Nacht zu wünschen«, fährt sie fort. Ich habe an Hunderten von Hochzeitsfeiern teilgenommen, dennoch zucke ich zusammen,
als Lady Aneaxi mir die Hand auf die Schulter legt. Hinter ihr wartet ein Grüppchen Dienstboten, alle in Weiß gekleidet und mit Girlanden aus Papierblumen geschmückt, um uns ins Hochzeitsgemach zu begleiten.
    Wir erheben uns, der König und ich, obwohl ich nicht weiß, wie mir das eigentlich gelingt, denn meine Beine prickeln vor Taubheit. Ich habe ein klebriges Gefühl unter den Achseln, und mein Herz hämmert wild. Oh Gott, ich weiß nicht, was ich tun soll. Mit schnellen Wimpernschlägen versuche ich die Tränen zurückzudrängen.
    Die Dienstboten grinsen und kichern und führen uns dann aus dem Speisesaal, während die nobleza d’oro uns Segenswünsche und Ermutigungen nachruft. Ich sehe verstohlen zu meinem Ehemann hinüber. Zum ersten Mal, seit er den Schleier von meinem Gesicht gehoben hat, meidet er meinen Blick.

2

    U nser Gemach ist erfüllt vom warmen goldenen Licht und dem honigsüßen Geruch von Bienenwachskerzen, die flackernd überall im Zimmer stehen, auf dem Fensterbrett, dem steinernen Kamin und den kleinen Tischchen aus Mahagoni, die das hohe Himmelbett einrahmen.
    Das Bett …
    Zu meiner Rechten steht mein jetziger Ehemann beinahe ebenso steif da wie ich, eine dunkle Schattensäule, die ich nicht anzusehen wage, und so starre ich den Baldachin des Bettes an, der aus leuchtend rot gefärbter Baumwolle gefertigt ist. Diener eilen durch den Raum, ziehen die Vorhänge zurück und binden sie an den Bettpfosten zusammen. Ein riesengroßer Sonnenkranz, das Wappen der de Riquezas, strahlt mich vom Deckbett an. Ich klammere mich an den Einzelheiten fest, betrachte die gelben Flammenzungen, die aus den Strahlenspitzen dringen, als Lady Aneaxi einen Eimer Rosenblätter auf der Decke ausschüttet und sie mit den Fingerspitzen verteilt. Meinem Blick ist der Anker genommen, an dem er sich bis eben festhielt.
    Die zartrosa Rosenblätter verbreiten einen sanften Blumenduft,
der sich mit dem honigsüßen Bienenwachs zu einer betörenden Mischung verbindet. Unwillkürlich muss ich an die rosenumrankte Hochzeitszeremonie denken und daran, wie Alejandros Lippen die meinen berührten. Viel zu kurz.
    Ich sehne mich danach, dass er mich wieder küsst.
    Dabei war es nicht mein erster Kuss. Dieses zweifelhafte Privileg kam einem hochgewachsenen, schlaksigen Jungen auf einer Hochzeitsfeier zu, als ich vierzehn war. Da ich zu schüchtern war, um zu tanzen, hatte ich mich in einem Alkoven versteckt, wo er mich aufspürte und mir seine Liebe gestand. Seine Augen drückten so tiefe Gefühle aus, dass mein Gesicht ganz heiß wurde. Dann drückte er seine Lippen auf meine, ich schmeckte das Basilikum auf seiner Zunge, aber er küsste mich auf eine Weise, wie ich eine Passage aus der Allgemeinen Lehre ergebenen Dienens aufsagen würde. Routiniert. Leidenschaftslos.
    Aufgeregt und durcheinander verließ ich das Bankett, und am nächsten Morgen, als Juana-Alodia und ich gemeinsam pochierte Eier mit Lauch zum Frühstück aßen, erzählte sie vom Sohn eines Conde, einem schlaksigen Jungen, der sie am Abend zuvor in einen Alkoven gezogen, ihr seine Liebe gestanden und versucht hatte, sie zu küssen. Sie habe ihn in die Nase gekniffen und sei lachend weggelaufen. Vermutlich, sagte sie, habe er einfach nur versucht, eine Prinzessin ins Bett zu bekommen.
    Nun spüre ich Aneaxis Lippen auf meiner Stirn. »Meine Elisa«, flüstert sie. Dann verlassen sie und die Dienstboten unser Gemach. Bevor sie die Tür hinter sich schließen, fällt mein Blick auf große, sonnengebräunte Soldaten mit stählernen Brustpanzern. Sie tragen die roten Seidenbanner von
König Alejandros Leibwache, und ich frage mich unwillkürlich, ob Seine Majestät sich hier nicht sicher fühlt. Aber dann sehe ich ihn an, sehe seine schwarzen Locken, die sich im Nacken ringeln und seine sonnenverbrannten Hände, und vergesse die Wächter.
    Ich will mehr als nur einen kleinen Kuss. Gleichzeitig macht mir der Gedanke Angst.
    Mein Ehemann sieht schweigend, mit starrem Blick auf die mit Rosenblättern bestreute Decke. Wie gern wüsste ich, was ihm gerade durch den Kopf geht, aber ich wage nicht, ihn zu fragen. Stattdessen betrachte ich sein Profil und denke an den leidenschaftslosen Kuss, den mir der Sohn des Conde gab. Das Blut pocht in meinen Ohren, als ich schließlich flüstere: »Es wäre mir recht, wenn wir heute Nacht nicht die Ehe vollziehen
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