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Ich war zwölf...

Ich war zwölf...

Titel: Ich war zwölf...
Autoren: Nathalie Schweighoffer
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    Was geschieht mit mir? Er steht da in
seinem braunen Bademantel, vor meinem Bett, mit merkwürdigem Gesichtsausdruck,
einem harten kalten Blick, als hätte ich etwas Schlimmes getan. Ich habe heute
nichts Schlimmes getan. Warum habe ich Angst? Ich weiche an die Wand zurück,
drücke mich dagegen, ich ziehe das Betttuch über mich. Ich müßte davonlaufen,
verschwinden, aber hinter mir ist die Wand und vor mir mein Vater. Warum sitzt
er zu dieser Stunde auf meinem Bett? Da stimmt doch etwas nicht.
    Er streichelt mein Haar, und ich fühle
mich bedroht, als bekäme ich gleich eine Ohrfeige.
    »Papa, was willst du? Hör auf, laß
mich.«
    Er beginnt von Franck zu sprechen. Ich
begreife nicht.
    Er will wissen, was Franck mit mir
macht, ob er mich küßt, wohin er seine Hand legt. Er will, daß ich ihm alles
über Franck sage. Eine Menge langer, dahingemurmelter Sätze, immer weiter
spricht er von Franck. Was soll ich ihm sagen? Was hat er sich in den Kopf
gesetzt? Ich bin zwölfeinhalb, ich habe nichts mit Franck gemacht. Er irrt
sich, er will Dinge wissen, die nicht vorgefallen sind. Was will er denn von
mir hören? Mich macht das sprachlos. Nie zuvor hat er das getan. Eine
fürchterliche Leere ist in meinem Kopf. Unmöglich, eine Zeitlang auch nur ein
einziges Wort herauszubringen. Noch immer stellt er Fragen. Fast möchte man
meinen, er will, daß ich lüge, daß ich ihm Geschichten erzähle. Ich darf nicht
schockiert aussehen. Ich muß das kleine Mädchen spielen, das die Worte, die er
ausspricht, die Gebärden, die er sich ausdenkt, normal findet.
    »Das ist nicht wahr, Papa. Ich mag
Franck gern, er ist mein Freund. Aber warum fragst du mich das?
    Ja, Franck ist mein Liebster. Wir
halten uns an den Händen, das ist alles.«
    Ich weiß, daß sich die Liebespaare im
Fernsehen umarmen. Aber Franck und ich tun das nicht. Wir halten nur Händchen.
Ich kann keinen Jungen umarmen, ich bin zu klein. An so etwas habe ich mit
Franck noch nicht einmal gedacht. Wovon wir beide sprechen? Weiß ich doch nicht.
Was wir machen, wenn wir allein sind? Och, wir reden halt. Und dann schauen wir
uns in die Augen, aber das werd’ ich ihm nicht sagen. Wir schauen uns an, als
wären wir Kinder von einer anderen Welt. Es ist wunderschön, mit seiner Hand in
meiner.
    Das geht meinen Vater nichts an. Immer
weiter streichelt er mein Haar, was er macht, ist nicht normal. Ich spür’ das
genau. Mir ist zu heiß, ich fürchte mich zu sehr, ich möchte, daß er weggeht
und mich schlafen läßt. Meine Augen brennen. Ich verstehe nicht, warum er mich
mitten in der Nacht weckt, um mit mir zu plaudern. Er sagt, daß es Dinge gibt,
die ich wissen muß, weil ich älter werde. Was für Dinge?
    Ich bitte ihn freundlich, sich schlafen
zu legen, weil ich müde bin. Er sieht enttäuscht aus. Aber er geht weg, wobei
er seinen braunen Bademantel zurechtrückt. Nie ist er ohne diesen Bademantel.
Das ist wie eine Uniform am Abend. Ich weiß nicht, was er im Sinn hatte, aber
ich kann nicht mehr schlafen. Mein Vater ist komisch, er führt Nachtleben, er
schuftet die ganze Zeit, er denkt an nichts anderes. Die Arbeit, immer die
Arbeit. Wenn er bedeutungsvoll von seiner Arbeit spricht, hat man den Eindruck,
daß er von etwas Großartigem redet. Und ich bin überzeugt, daß die Arbeit
herrlich ist, wie er sagt. Es gibt nichts Besseres auf der Welt! Manchmal sehe
ich ihn an seinem Schreibtisch sitzen, wie er Rechnungen an seine Kunden
schreibt. Er ist schön, unbezwinglich. Und ich bin nichts daneben. Trotzdem ist
er stolz auf mich. Weil ich gut in der Schule bin, ich bin immer die erste,
immer fröhlich, immer freundlich, immer alles! Damit er stolz auf mich ist. Er
hat mir eine mechanische Schreibmaschine gekauft, er hat mir Buchführung
beigebracht, mir erklärt, wofür man sie braucht, und alles Übrige. Nachdem er
am Abend seine Reparaturwerkstatt für Radios geschlossen hat, lehrt er mich die
Berechnung der Mehrwertsteuer. Ich hab’ schon alles verstanden. Ich will ihm
helfen. Denn mein Vater ist ehrgeizig, er rackert sich für seine Familie ab, er
sagt, er will für seine Kinder all das, was er nicht gehabt hat. Ich habe
beschlossen, daß ich ihm dabei helfen werde. Ich werde genauso ehrgeizig sein
wie er, genauso groß wie er. Sein Motto ist: Man muß jung anfangen. Ich habe
erstaunlich schnell begonnen. Jetzt arbeite ich drei Stunden pro Woche, und ich
bin ungeheuer versiert. Ich bin kein einfaches kleines Mädchen mehr, ich bin
seine kleine
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