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Der Feuerstein

Der Feuerstein

Titel: Der Feuerstein
Autoren: Rae Carson
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anzunehmen.« Meine Stimme ist zu scharf und hart, wie die eines unartigen Kindes, aber ich weigere mich, den Blick zu senken.
    »Ich glaube, du wärst überrascht«, sagt er.
    »Worüber?«
    »Über viele Dinge, Elisa.«
    Da hat er recht. Es ist leicht, überrascht zu werden, wenn einem niemand etwas erzählt. Und plötzlich wird mir bewusst, dass ich noch immer nicht weiß, was er von mir will. Eine »Freundin« hätte er auch in Alodia finden können oder in vielen anderen jungen Edelfrauen. Der König hat meine Frage abgetan, als sei ich ein Kind, genauso wie es auch Papá und Alodia ständig tun, und wie eine dumme Gans habe ich das zugelassen.
    Bevor ich den Mut aufbringe, noch einmal nachzuhaken, sagt er: »Ich denke, wir sollten ein wenig schlafen, denn schließlich steht uns morgen eine lange Reise bevor.« Er steht auf und fegt ein paar Rosenblätter von der Decke.
    »Du kannst hier schlafen«, sage ich, »und ich nehme die Bank unter dem Fenster.«

    »Das Bett ist groß genug für uns beide. Ich werde mich auf die Decke legen.«
    Erst erstarre ich, dann fasse ich mich wieder: »Gut.« Ich schüttele die übrigen Blätter vom Bett und schlage die Decken zurück. Sicher wird es lange dauern, bis ich einschlafen kann. Zum einen wird mich nicht einmal das pulsierende Juwel in meinem Nabel dazu bringen, meinen terno abzulegen und es mir wirklich bequem zu machen, zum anderen kann ich mir nicht vorstellen, dass Alejandros Nähe dabei besonders hilfreich sein wird. Ich blase die Kerze auf meinem Nachttisch aus und schlüpfe unter die Decke, den Rücken meinem Ehemann zugewandt.
    Die Matratze bewegt sich leicht, als Alejandro sich neben mir ausstreckt. Ich höre, wie er die Kerzen auf seiner Seite löscht. Dann fühle ich plötzlich warme Lippen auf meiner Wange. »Fast hätte ich es vergessen. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Lucero-Elisa«, flüstert er.
    Ich seufze leise in der Dunkelheit. Das Schlimmste, was geschehen könnte – so hatte ich jedenfalls angenommen –, wäre, wenn sich mein Ehemann voll Abscheu von mir abwendete. Aber da habe ich mich geirrt. Viel schlimmer ist, dass er mir zuhört und mich ansieht. Und dass er nicht nur gut aussieht, sondern auch noch so freundlich ist.
    Es wird nur zu leicht sein, sich in ihn zu verlieben.
    Ich liege noch lange wach, mit weit geöffneten Augen und wild schlagendem Herzen, nachdem die letzte Kerze auf dem Kaminsims flackernd verloschen ist, nachdem ich anhand seiner ruhigen und gleichmäßigen Atemzüge gemerkt habe, dass der Mann neben mir eingeschlafen ist.

     
    Unsere Kutsche steht an der Spitze einer langen Prozession, die auf dem gepflasterten Hof wartet. König Alejandros Leibgardisten haben hoch aufgerichtet dahinter Aufstellung genommen, die dunklen Gesichter unergründlich. Um unser Gefährt zu erreichen, müssen wir an den Springbrunnen und den Jacaranda-Bäumen vorbei, durch eine Phalanx von Edelleuten und Dienstboten, die Samenkörner und Rosenblätter werfen. Alejandro streckt seine Hand nach meiner aus, aber Papá kommt ihm zuvor und umarmt mich.
    »Elisa«, flüstert er in mein Haar, »du wirst mir fehlen.«
    Das bringt mich beinahe aus der Fassung. In den letzten ein oder zwei Tagen hat mir mein Vater mehr offene Zuneigung entgegengebracht als im ganzen letzten Jahr. Er ist immer so beschäftigt, so weit weg. Kann er mir nur zeigen, wie viel ihm an mir liegt, indem er mich aufgibt?
    »Du mir auch«, bringe ich heraus, und die Worte schmerzen mich, weil sie wahr sind. Ich weiß, dass ich ihm nie so lieb und teuer sein werde wie Alodia, aber ich liebe ihn dennoch sehr.
    Er lässt mich wieder los, und meine Schwester gleitet zu mir herüber. Sie trägt ein schlichtes Kleid aus mehreren Schichten blauer Seide, die elegant von ihren schlanken Schultern fallen, ihr Gesicht ist gefasst, perfekt wie eine Skulptur. Als es sich meinem nähert – ich rieche ihr Jasminparfüm  –, sehe ich winzige Fältchen rund um ihre braunen Augen. Sorgenfältchen. Seltsam, dass sie mir noch nie zuvor aufgefallen sind.
    Alodia packt meine Schultern mit ihren kräftigen Fingern. »Elisa«, flüstert sie. »Hör gut zu.«
    Etwas an ihrer Art, vielleicht die Intensität ihres Blickes,
zwingt mich, das Plätschern der Springbrunnen und das Raunen der Menge auszublenden und mich auf ihre Stimme zu konzentrieren.
    »Vertraue niemandem, Elisa, außer Alejandro, Ximena und Aneaxi.« Ihre Stimme ist so leise, dass wahrscheinlich nicht einmal unser Vater ihre
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