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Der Duft von Tee

Der Duft von Tee

Titel: Der Duft von Tee
Autoren: Hannah Tunnicliffe
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Weihnachtsbaum. Doch stattdessen lag da ein kleiner, verängstigter Vogel im Blumenkasten vor dem Fenster, mitten auf der Blumenerde.
    Erinnerst du dich, wie wir den Vogel aufgehoben und in eine ausgespülte, mit Socken ausgelegte Eisdose gelegt haben? Er lag auf der Seite und starrte uns mit einem suchenden, blinzelnden Auge an. Man sah sein kleines Herz so schnell und hart schlagen, dass ich Angst hatte, es würde durch den Schock explodieren. Dann hast du den Karton zum Bett herübergebracht und dich danebengesetzt und gesummt. Du hast »Amazing Grace« gesummt.
    Du hast eine Flasche Notfalltropfen aufgeschraubt und die Pipette ganz nahe an den kleinen, orangefarbenen Schnabel des Vogels gehalten. Ich war mir sicher, dass er den Schnabel nicht aufmachen würde, doch das hat er, nur ein ganz klein wenig. Ein paar Tropfen des Heilmittels sind hineingeflossen, der Rest ist auf den wächsernen Federn auf seiner Brust gelandet. Du hast weiter gesummt und endlich – mir kam es wie eine Ewigkeit vor, obwohl es wahrscheinlich gar nicht so lange gedauert hat – konnte er sich wieder aufrappeln. Mit einem Auge hat er mich, mit dem anderen dich angesehen. Wir haben ihn zum Dachgarten hochgebracht, erinnerst du dich? Sobald wir oben waren, ist er aus der Eisdose gehüpft und unsicher in den Himmel geflattert. Wie schnell er sich wieder daran erinnert hat, wie man fliegt.
    Mama, ich weiß nicht, was ich tun oder sagen oder denken oder fühlen soll. Ich kann nur an seltsame Dinge denken. Wie an diesen Vogel. Wenn ich an das denke, was wirklich wichtig ist, habe ich das Gefühl zu ertrinken. Dann schnürt es mir die Kehle zu. Mein Herz beginnt zu hüpfen wie dieser kleine Vogel, und ich wünschte, du wärst hier. Um mit mir zu backen . Um mit mir zu singen. Um mir übers Haar zu streichen.
    Deine dich liebende Tochter
    Grace
    Am späteren Abend liege ich auf der Couch, aber ich sehe nicht fern. Ich starre aus dem Fenster.
    »Grace? Bist du wach?«, fragt Pete. Als er nach Hause gekommen ist, hat er die Wohnung dunkel vorgefunden. Ich habe vergessen, das Licht anzumachen. Er betätigt den Schalter, der der Tür am nächsten ist, während er aus seinen Schuhen schlüpft.
    Ich schenke ihm ein kleines Lächeln; er sieht so besorgt aus, da ist das das Mindeste, was ich für ihn tun kann. Als er zu mir herüberkommt, strecke ich die Hand aus und berühre seinen Mund mit den Fingerspitzen. Es ist derselbe Mund, den ich heute Morgen zum Abschied geküsst habe, und doch fühlt er sich so fremd an. Ich beuge mich vor und küsse ihn auf die Lippen, als würde ich eine unbekannte Frucht probieren.
    Er wird niemals Vater werden.
    Als ich mich von ihm löse, starrt er mich an, und sein finsterer Blick wird weicher.
    Er wird niemals Vater werden, und das ist meine Schuld.
    Ich beuge mich wieder vor und küsse ihn so leidenschaftlich, dass ich das Eisen in seinem Blut schmecke. Ich muss ihm das Zahnfleisch verletzt haben, und am liebsten möchte ich ihm in die Lippe beißen. Er wimmert leise und befreit sich, um mich erneut anzusehen. Ich drücke ihn aufs Sofa zurück, die dunklen Kissen verdecken die Konturen seines Gesichts. Ich sehe ihn im Halbdunkel nur unscharf, doch ich finde seinen Mund und drücke meine Lippen so fest auf seine, dass ich seine Zähne dahinter spüre. Als ich mich zurückziehe, um Luft zu holen, sitze ich bereits auf ihm. Ich weiß, dass er mich weiter anstarrt, aber er sagt nichts. Die Geräusche, die wir machen, beschränken sich auf warme, kurze Atemzüge.
    Die Krawatte raschelt, als ich sie ihm vom Kragen reiße. Er knöpft sein Hemd auf, während ich von ihm herunterrolle, um ihm die Hose auszuziehen. Ich ziehe mir die Bluse über den Kopf, und er öffnet meinen Reißverschluss. Als ich meinen BH aufmache, hält er meine Arme einen Moment lang hinter meinem Rücken fest, und wir halten halb nackt inne. Wir tragen beide noch unsere Socken, seine sind kurz und dunkel und noch warm von seinen Schuhen.
    »Ich …«, beginnt er, beendet den Satz jedoch nicht. Ich sehe seinem Gesicht an, dass er sich danach sehnt, mit mir zu reden. Eine Million ungesagter Dinge liegen in seinen Augen. Stumm bitte ich ihn zu schweigen, was er auch tut.
    Ich spüre, wie er groß und warm gegen meinen Slip drückt, versuche mich zu erinnern, wann meine letzte Periode war und frage mich, ob ich vielleicht gerade einen Eisprung habe. Das ist mittlerweile zur Gewohnheit geworden, doch der Gedanke verschwindet schnell wieder; es ist nicht mehr
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