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Der Duft von Tee

Der Duft von Tee

Titel: Der Duft von Tee
Autoren: Hannah Tunnicliffe
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wir zwischen ihnen hindurchschritten. Mama ging einige Meter vor mir und hat gesungen. Ich glaube jedenfalls, dass sie gesungen hat. Vielleicht hat sie auch mit den Blumen gesprochen. Sie hatte ihnen den Kopf zugeneigt, und auf ihrem Gesicht lag ein breites Lächeln. Sie steckte sich die Haare hinter das Ohr. Die Sonne war warm, die Brise kühl, und ihr glückliches Gesicht schien »Ich liebe dich, Gracie« zu sagen. Genau das hat sie immer gesagt, wenn sie mich abends ins Bett gebracht hat. Als wäre alles in bester Ordnung. Doch dann war da ein lautes Geräusch, wie ein Donner oder ein Peitschenschlag auf trockener Erde, und eine Schar Vögel schoss über den Himmel. Wir sahen einander an, Mamas Gesicht wurde blass und ruhig. Sie wirkte nicht kleiner, aber dünner und fast ein wenig durchsichtig.
    Hatte ihr Mund die Worte Verzeih mir geformt? Furcht ergriff von mir Besitz. Ich stolperte auf sie zu, mein Rock streifte die Mohnblumen. Mama sang noch immer, aber alles war so still, ich konnte nur sehen, wie sich ihre rot angemalten Lippen bewegten. Sie verblasste langsam. Ich begann zu weinen. Als ich sie eingeholt hatte und mein Ohr an ihren Mund legte, fielen meine Tränen in ihren Nacken und benetzten ihre Bluse. Dann hörte ich, was sie flüsterte: »Summertime, and the livin’ is easy …«
    Ich setze mich im Bett auf und wünsche mir, den Traum vergessen zu können. Ihr Gesicht, ihre Stimme, selbst der Geruch ihres Lieblingsparfüms wirbeln endlos durch meinen Kopf, machen mich benommen und rauben mir den Atem. Ich greife nach den Schlaftabletten auf dem Nachttisch und nehme eine. Sie wird frühestens in einer halben Stunde wirken, doch wach zu bleiben ist zu schmerzhaft. Meine Muskeln tun weh, aber um mein Herz ist es noch schlimmer bestellt. Ich verziehe beim Anblick des Sonnenlichts, das durch das Fenster dringt, das Gesicht. Der Frühling ist im Anmarsch, und das Jahr des Goldenen Schweins geht zu Ende. Was jetzt? Was jetzt?
    In jenen Momenten, den Badezimmermomenten, in denen ich auf diese magischen blauen Linien wartete, dachte ich seit Langem wieder an Mama. Jetzt ist sie hier bei mir in Macao, drängt sich in meine Träume. Töchter verstehen ihre Mütter erst, wenn sie selbst Mutter werden, das hat eine Kollegin einmal zu mir gesagt. Vielleicht hatte sie recht. Mama tauchte wieder in meinen Gedanken auf, als ich in den Wartezimmern der Fachärzte saß und die Frauen und ihre Kinder in den Kinderwägen anstarrte. Ich hatte Mama und ihre Geheimnisse vor langer, langer Zeit aus meinem Gedächtnis verbannt, doch mit einem Mal war sie wieder da, hatte mich bei meinen Kinderhänden gefasst und tanzte mit mir, backte Matschkuchen, kicherte, weinte. Szenen aus unserer Vergangenheit reihten sich zu einer krummen Gänseblümchenkette aneinander. Ich konnte nicht aufhören, an sie zu denken. Manchmal glaubte ich sogar, sie beim Fleischer gesehen zu haben oder am Bahnhof, wie sie gerade in einen Zug steigt. Doch eins weiß ich mit Sicherheit: Meine Kollegin hatte unrecht. Ich werde Mama nie verstehen. Ich drücke die Finger gegen die Schläfen und lehne mich in mein Kissen zurück.
    Pete hat mir ein Sandwich neben das Bett gestellt, es pappt langsam an dem weißen Teller fest. Darunter liegt ein Notizblock. Ich greife nach dem Block und sehe mich nach einem Stift um – ich kann nichts dagegen tun, es ist zu einer Gewohnheit geworden. Seit wir uns vorgenommen haben, ein Kind zu bekommen, schreibe ich Mama Briefe. Irgendetwas daran beruhigt mich, hilft mir, mich besser zu fühlen. Wenigstens für eine Weile. Manche Frauen schreiben Tagebuch, ich schreibe Mama. Meiner Mama mit den rubinroten Haaren. Wild wie eine Katze. Die einzige Person, die meine beste und meine schlechteste Seite kennt. Die mir ständig gegenwärtig ist.
    Liebste Mama,
    erinnerst du dich an die Zeit, als wir in Borough gewohnt haben und der Vogel gegen das Fenster geflogen ist? Wir haben gebacken – Meringues, Tartes, irgendetwas Französisches. Wir waren in der Küche und hörten diesen entsetzlichen dumpfen Aufschlag und sahen auf. »Du liebe Güte, das klingt, als wäre ein Engel vom Himmel gefallen«, hast du gesagt.
    Ich habe wirklich geglaubt, dass es ein Engel war und bin auf die Ecke der Spüle geklettert, um hinauszusehen. Wahrscheinlich habe ich eine blonde, lockige Frau erwartet, die sich ihren verletzten Kopf reibt und ihr langes, blaues, glänzendes Kleid glatt streicht. Du weißt schon, so wie der Engel oben auf dem
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