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Unser Mann in London

Unser Mann in London

Titel: Unser Mann in London
Autoren: Moritz Volz
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Prolog Mein erster Engländer
    Der erste Engländer, den ich in meinem Leben traf, kurbelte die Autoscheibe herunter und bellte die Fußgänger an. Ich war sechs Jahre alt und bekam ein vages Gefühl dafür, aus was für einem herrlichen Land er kommen musste: wo die Erwachsenen sich wie Kinder benahmen.
    Wir hatten meine Schwester Veronika am Reitstall abgesetzt und fuhren durch die Wälder und Wiesen des Siegerlands, grüne Hügel und Berge, so weit der Blick reichte, kein Stück ebenes Land. Mein kleiner Bruder Konstantin und ich saßen auf der Rückbank, David am Steuer, mein Vater neben ihm. Ich schätzte ihn auf 50, vielleicht war er auch erst 30, jedenfalls in einem Alter, das uns Kindern alt erschien: Er hatte eine Glatze. David lehrte als Gastdozent Mathematik an der Universität Siegen. Ich vermute, mein Vater, der Chemie unterrichtete, hatte ihn kennengelernt, weil er glaubte, er wäre dank seines Englischs als Einziger an der Universität in der Lage, sich mit ihm zu unterhalten. Von dem Moment an, als David die Fensterscheibe herunterkurbelte und wie ein Foxterrier nach den Leuten kläffte, wollten mein Bruder Konni und ich ihn immer wieder sehen. Solche Erwachsenen gab es in Bürbach nicht.
    1991 kehrte David nach Südlondon zurück, und wir besuchten ihn in den Sommerferien. Auf der Autofahrt zwangen meine drei Schwestern unsere Eltern, einen Radiosender einzustellen, der Poplieder von East 17 und New Kids On The Block spielte. Konni und ich saßen auf der zusätzlichen, umgekehrten Rückbank unseres alten Volvos, schauten aus dem Kofferraumfenster und sangen die englischen Texte mit, ohne sie zu verstehen. «Sepp Blei Sepp, oh Baby.»
    Zurück aus dem Irland-Urlaub zeigen wir unseren Nachbarn, wie viel Gepäck wir dabeihatten. Von links: meine Mutter, Konni, Veronika, mein Vater, ich und Jenny.
    «Hört endlich auf, ihr zerstört das Lied mit euren falschen Texten», riefen meine wutschnaubenden Schwestern. «Step by Step» hieße der Song.
    «Sepp Blei Sepp», sangen Konni und ich noch lauter.
    Meine Schwestern durften eine Woche bei David bleiben. Sie waren schon größer als ich. Besser erzogen, sollte das wohl heißen. Konni und ich fuhren inzwischen mit unseren Eltern durch England beziehungsweise das, was ich damals für irgendeinen verwandten Teil von England hielt. Es hieß Irland. Ich erinnere mich hauptsächlich an das Essen. Die ungetoasteten Toastbrote, die Angelsachsen Sandwichs nennen, waren mein Urlaubshöhepunkt. Am liebsten aß ich sie mit Schinken und Thunfisch. Also, nicht mit Schinken und Thunfisch zusammen belegt, wobei das den Engländern durchaus zuzutrauen wäre.
    Das Gefühl, dass Engländer irgendwie anders waren, verstärkte sich später, als in der Schule der Fremdsprachenunterricht begann. Während unsere Französischlehrerin enge Hosen aus falschem Schlangenleder zu Schuhen mit hohen Absätzen trug, bevorzugte die Englischlehrerin weite zottelige Röcke und trug die Haare dazu passend ungekämmt. Sie lehrte uns, dass Engländer sich nicht gerne einmischten und dass man in England auch nicht sagte: «Gibst du mir mal die Butter?» Sondern: «Würdest du bitte so großzügig sein, mir die Butter zu reichen, falls es dir nichts ausmacht.» Ich mochte dieses Land und dachte nicht weiter darüber nach. Es schien so fern von allem, was mit mir zu tun hatte.
    An meiner Schule in Siegen gab es ein blondes Mädchen aus dem Nachbardorf, und ich fuhr zweimal die Woche zum Training der B-Jugendelf von Schalke 04. Ich hatte genug mit meinen Träumen zu tun. Als mir mein Vater eines Abends auf der Rückfahrt vom Training in Schalke sagte, da habe so ein Mann angerufen, ob ich mir vorstellen könne, zu Arsenal nach London zu wechseln, dachte ich nicht: «Wow!» Ich fragte mich entgeistert, wieso einer der besten Fußballklubs Englands auf die Idee kommen sollte, einen 15-jährigen Jungen aus Bürbach zu verpflichten. Aber dann fiel mir ein, dass Engländer ja auch aus dem Autofenster bellten.
     
    Zwölf Jahre später frage ich mich manchmal, was ich geworden bin. Ein englischer Deutscher? Ein deutscher Engländer? In irgend so einen Mischmasch habe ich mich verwandelt, seit ich mit 16 tatsächlich Arsenals Ruf nach London folgte. Ich war ein Skandal; der Gegenstand einer jener hysterisch moralischen Debatten, die wir Deutschen so lieben: der erste deutsche Jugendliche, den ein ausländischer Fußballklub in die Ferne lockte, «der verkaufte Junge», «der Kinderarbeiter», «vom
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