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Dornentöchter

Dornentöchter

Titel: Dornentöchter
Autoren: Josephine Pennicott
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PROLOG
Pencubitt, Tasmanien, Sonntag, 12. Juli 1936
    Irgendetwas stimmte nicht.
    Thomasina wusste, dass auf einmal alles anders war. Ihre jüngere Schwester Marguerite schob ihre Puppe im Wägelchen, das Vater für sie gebaut hatte, über die Wiese und bemerkte nichts. Der Himmel war immer noch vom selben Grau wie schon den ganzen Tag. »Es wird Schnee geben«, hatten die Ladenbesitzer morgens gesagt, als Thomasina im Ort einige Besorgungen für ihre Mutter erledigte. Doch statt des Schnees hatte sich ganz unerwartet eine Nebeldecke über die Stadt gelegt. Der dickste Nebel seit hundert Jahren in Pencubitt, meinte Daddy, bevor er Mutter anbrüllte und türenknallend aus dem Haus stürmte.
    Jetzt spielte drinnen das Grammophon. Sie konnte die Klänge von »Ain’t Misbehavin’« hören, einem der Lieblingslieder ihrer Mutter. Auf dem Rasen lag ein Jahrbuch mit Abenteuergeschichten für Mädchen. Alles war genau so, wie es den ganzen Tag über gewesen war – und doch war etwas anders. Thomasina erhob sich von ihrem Beobachterposten, wo sie zitternd und ohne Mantel gekauert hatte. Sie musste auf die Toilette. Obwohl ihr Magen verkündete, dass die Mittagessenszeit längst vorüber war, hatte ihre Mutter die Mädchen gewarnt, sie ja nicht zu stören. »Ich schreibe«, hatte sie gesagt. »Geht nach draußen spielen, bis man euch ruft. Falls mich eine von euch unterbricht, wird euer Leben nicht mehr lebenswert sein – dann hetze ich nämlich meinen Teufel auf euch!«
    Thomasina und Marguerite hatten große Angst vor dem Tasmanischen Teufel, den ihre Mutter angeblich aus der Falle eines Jägers befreit hatte. Er lag im Keller angekettet und war bereit, jeden Befehl ihrer Mutter auszuführen. Gesehen hatten die Mädchen ihn nie, dafür aber sein Fauchen gehört, und das reichte. Normalerweise ernährten sich Teufel von Aas, aber Mutter fütterte ihm bloß ein paar Essensabfälle. Dadurch war der Teufel so hungrig, dass er sich mit seinem gedrungenen schwarzen Körper auch auf lebende Beute stürzen würde. Hungrig und verzweifelt genug, um möglicherweise zwei eigensinnigen Mädchen hinterherzujagen. Und er konnte rennen wie der Wind.
    Obwohl ihre Mutter es behauptet hatte, wusste Thomasina, dass sie nicht arbeitete. Die Schreibmaschine klapperte nicht, und kurz nachdem ihr Vater das Haus verlassen hatte – seine Stimme so kalt wie der Morgenfrost, als er mit Mutter sprach –, hatte Thomasina zwei laute Stimmen gehört. Mutter brüllte oft jemanden an – sogar sich selbst –, wenn sie einen ihrer Anfälle hatte. Oder hatte der Teufel sprechen gelernt, wie so viele der Tiergestalten in ihren Büchern? In Mutters Welt schien nichts unmöglich zu sein.
    Thomasina blickte sich im Garten um. Darin standen einige Statuen, die Schöpfungen ihrer Mutter darstellten: Herr Lachvogel, mit Namen Kenny Kookaburra, die Waran-Dame Gertrude Goanna und nicht zu vergessen Billy Blauzunge, die kleine Echse. Die Riesenspinnen-Frau Harriet Huntsman, aus Leder und Stroh, saß auf einem Baum, während die Stachelranken-Männer mit stechend bösem Blick hinter einem Busch hervorlugten. Sowohl Harriet als auch die Stachelranken-Männer jagten Thomasina ab und zu immer noch einen Schrecken ein. Wurden sie wirklich nachts lebendig, wie Mutter behauptete? Sie warf einen Blick auf ihre Schwester und fragte sich, ob Marguerite wohl inzwischen bemerkt hatte, dass etwas nicht stimmte, doch ihre Schwester redete immer noch plappernd auf ihre blöde Puppe ein. Es würde Marguerite nie in den Sinn kommen, sich ihrer heißgeliebten Mutter zu widersetzen, nicht mal wenn ihre Hände und Beine ganz blau vor Kälte wären.
    Thomasina spürte ein weiteres stechendes Warnsignal ihrer Blase. Die Musik aus dem Haus war furchtbar laut. Obwohl sie wusste, dass es unmöglich war, rechnete Thomasina fast damit, dass ihre Mutter jeden Moment herausgetänzelt käme, um den Mädchen einige Tanzschritte beizubringen. Oder um sich hinzustellen und sie wegen irgendeines eingebildeten Vergehens anzukreischen.
    Plötzlich brach die Musik ab. War der Teufel fertig mit Mutter und nahm nun die Witterung der beiden Kinder auf? Alles war still.
    Wie die aufflackernden Lichtsignale eines Leuchtturms sah Thomasina wieder die Szenen vor sich, die sie einige Minuten zuvor miterlebt hatte: das Dämmerlicht neben der untersten Treppenstufe. Schummrige Reihen eingelagerter Weinflaschen, Packkisten, Gartenutensilien. Ihre Mutter auf einem hölzernen Tisch, die Arme über dem Kopf.
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