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Whisper

Whisper

Titel: Whisper
Autoren: Arena
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EINS
    Ich hasse, hasse, hasse ihn! Er nimmt mich mit in dieses Haus wie etwas, das ins Gepäck gehört, nicht, weil es schön ist, sondern, weil es mitmuss, ein notwendiges Übel wie ein sperriger Regenschirm. Notwendig bin ich nicht, aber ein Übel werde ich sein, darauf kann er Gift nehmen.
    Eliza, 3. Juli 1975
    A ls Kat singend von der waldumsäumten Bundesstraße in die schmale Zufahrtsstraße bog, sah Noa zum ersten Mal das Dorf. Eingebettet in blassgelbe Weizenfelder und sattgrüne Wiesen, lag es ihnen zu Füßen. Eine beinahe unwirkliche Stille schien es zu umgeben. In der Luft hing ein Geruch von Regen, obwohl der Himmel blau war und sich kein Wind regte, kein Halm sich in der hoch gewachsenen Weide neben ihnen rührte.
    Noch lange Jahre später würde Noa sich an diesen ersten Anblick erinnern, an dieses seltsame Gemisch aus Erwartung und Widerwillen, das in jenem Moment in ihr aufstieg, und an das, was Sekunden darauf geschah. An Pancakes klägliches Maunzen, das Kratzen ihrer stumpfen Krallen, die sich einen Weg aus dem Korbgefängnis suchten, und an Gilberts schrillen Schrei, der Kats Gesang durchschnitt wie ein Messer. Aber es war zu spät. Kat konnte nicht mehr bremsen, und als im nächsten Moment das Reh mit glasigen, gebrochenen Augen vor ihnen auf der Straße lag, beendete Noa ihr seit fünfeinhalb Stunden verbissen eingehaltenes Schweigen.
    »Kat, Scheiße, Kat , du hast es umgebracht!«
    Kat hob die Arme und senkte sie wieder in einer hilflosen Geste, dann blickte sie sich zu ihrem Freund Gilbert um, der vor der Beifahrertür stand und fassungslos auf das tote Tier starrte. Es war ein ausgewachsenes, aber dennoch junges Reh, was Noa am Gesicht und auch an der samtigen Glätte des Fells zu erkennen glaubte. Cremefarbene Tupfer musterten den beigebraunen Rücken, das Bauchfell war von einem fleckenlosen, fast milchigen Weiß, und während die dunklen Knopfaugen reglos in den Himmel starrten, war die schwarze Nase noch feucht, als hielte sich das Leben an ihr fest. Sie glänzte fast so intensiv wie das Blut, das als feine rote Spur unter dem Kopf des Tieres hervor auf das Straßenpflaster rann. Voll Scham ertappte sich Noa bei dem Wunsch, das Reh fotografieren zu wollen.
    »Wir müssen es von der Straße schaffen«, sagte sie schließlich. Ruhig und klar klang ihre Stimme, während Kat, die laute, schillernde Kat, ihrer Tochter schweigend zunickte, sich die kupferroten Locken hinters Ohr strich und das Tier bei den Vorderpfoten griff. Gilbert tat nichts. Er stand nur da, sein massiger Körper bewegungslos, das runde Gesicht bleich wie der Mond.
    Noa nahm das Reh an den Hinterbeinen und hob es gemeinsam mit Kat an, um es an den Straßenrand zu legen. Verwundert stellte Noa fest, dass es schwer war, fast so schwer wie ein Mensch.
    »Wir sollten es beerdigen«, flüsterte Kat, als sie sich wieder zum Auto wandten. »Sollten ihm die letzte Ehre erweisen, dem armen Wesen.«
    Auch Hitchcock stimmte jetzt in Pancakes Katzengejammer ein. Sein Maunzen war dunkler, kehliger; es klang in Noas Ohren wie eine Zustimmung zu dem, was Kat gesagt hatte. Aber wo sollten sie das Reh beerdigen? Dazu hätten sie es erst einmal mitnehmen müssen und das war unmöglich. Kats grüner Landrover war bis zum Anschlag gefüllt mit Kleiderkoffern, Bettwäsche, Mänteln und Gummistiefeln, mit Gilberts Bücherkisten, seinen tausend Teesorten, der dicken Buddhafigur, Kats Edelstahltöpfen, Pfannen und Messern, Noas Fotoausrüstung und dutzenden von Dingen mehr.
    »Wir können später herkommen und es holen«, gab sich Kat selbst zur Antwort, als sie alle wieder im Wagen saßen. »Ja, so machen wir es, wir kommen später her und holen es. Irgendjemand kann uns sicher sagen, wohin wir es bringen können.« Kat schüttelte ihre Locken, atmete durch – und war wieder ganz die Alte. »Okay. Wollen uns durch so was nicht die Ferien vermiesen lassen. Und wenigstens ein Gutes hatte es ja: Meine beleidigte Tochter spricht wieder mit mir. Was sagst du dazu, Gilbert?«
    Gilbert sagte gar nichts und Noa verdrehte die Augen, aber Kat lachte ihr glockenhelles Lachen, schlug Gilbert mit ihrer kräftigen Hand, die auf den ersten Blick so gar nicht zu ihrem Äußeren passte, auf den Oberschenkel und ließ den Motor an. So war Kat, sie konnte Dinge einfach wegatmen, wie einen Frosch im Hals herunterschlucken – und fort waren sie, als wären sie nie da gewesen.
    Auch Noa richtete den Blick nach vorn, aber ihr war, als blicke das Reh nicht mehr zum
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