Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Duft von Hibiskus

Der Duft von Hibiskus

Titel: Der Duft von Hibiskus
Autoren: Julie Leuze
Vom Netzwerk:
immer es bestand, ungeschehen machen und wieder in ihr altes Leben schlüpfen zu können – wie in ein Kleid, das alt, gemütlich und vertraut war.
    Die Erinnerung an Stuttgart und die Eltern, denen sie vor so kurzer Zeit noch in gegenseitiger Liebe verbunden gewesen war, legte sich über Emma wie ein grauer Schleier. Der lang unterdrückte Jammer brach sich Bahn, und sie schluchzte heiser auf. Sie hatte sich nicht von ihrer Mutter verabschieden können, sie hatte keine guten Reisewünsche ihres Vaters erhalten, und sie würde ihre Eltern höchstwahrscheinlich niemals wiedersehen.
    Und das Schlimmste von allem: Ihre Mutter und ihr Vater waren offensichtlich froh darüber.

2
    M oreton B ay, N ovember 1858
    L and in Sicht!«
    Der triumphierende Schrei gellte über das ganze Schiff und wurde augenblicklich aus Hunderten von Kehlen beantwortet. Die zerlumpten Männer, Frauen und Kinder des Zwischendecks stimmten ein Jubelgeheul an, das nach der gedrückten Stille der letzten Tage noch stürmischer klang.
    »Land in Sicht!«
    Drei unscheinbare Worte trugen die Hoffnung von Monaten in sich. Jeder der Auswanderer musste sie gehört haben, und doch rief einer es dem anderen zu, ungläubig, glücklich, wie erwacht aus der dumpfen Furcht, niemals in Australien anzukommen, doch noch einem Schiffsunglück, einem Überfall oder einem Sturm zum Opfer zu fallen.
    Emma stand allein auf dem Hinterdeck, als sie es hörte, und obwohl sie nach einer weiteren schlaflosen Nacht Kopfschmerzen gehabt hatte, waren diese nun wie weggeblasen. Eine fiebrige Aufregung ergriff sie, und sie starrte in den Horizont. Da, in der Ferne – war da nicht ein grünlicher Küstenstreifen? Nein, nicht grün, eher graublau, in sanften Dunst gehüllt.
    »Fräulein Röslin!«
    Wilhelmine stand am Ende des Hinterdecks und winkte Emma wild zu.
    »Fräulein Röslin, wir sind da, wir sind in Australien!«
    Emma vergaß ihre gute Erziehung und rannte quer über das Deck zu Wilhelmine. Sie hob das Kind empor und wirbelte es durch die Luft. »Ja, meine Kleine, wir haben es endlich geschafft!«
    Wilhelmine quietschte und zappelte, und Emma setzte sie wieder auf den Planken ab. Dass sie nach diesem engen Körperkontakt selbst sicherlich ebenso streng roch wie das Kind, war ihr egal. Hauptsache, die Fahrt war zu Ende, und sie alle würden bald wieder festen Boden unter den Füßen haben!
    »Ich kann’s gar nicht mehr erwarten«, sagte Wilhelmine aufgeregt. »Meinen Sie, wir können schon heute an Land?«
    »Mit Sicherheit nicht«, keifte eine weibliche Stimme hinter Emma. »Erstens ist das noch gar nicht das Festland, du dummes Gör, sondern eine Insel, und zweitens«, die Stimme klang nun schrill, »hast du auf diesem Deck nichts zu suchen!«
    Wilhelmine duckte sich wie in Erwartung eines derben Schlages, dann rannte sie davon, so schnell ihre Füßchen sie trugen.
    »Dass ich dich nie mehr hier erwische!«, rief die Gattin des Kapitäns ihr ungnädig nach.
    »Dazu werden Sie kaum mehr Gelegenheit haben, die Fahrt ist ja bald vorüber«, sagte Emma verstimmt. »Mussten Sie dem Kind unbedingt die Freude verderben?«
    »Na, na, na, mein liebes Fräulein«, sagte Frau Karnshagen und drohte ihr scherzhaft mit dem Finger. »Wer wird sich denn mit dem Gesindel verbünden? Kommen Sie, ich weiß etwas Besseres. Nehmen Sie mein Fernglas und schauen Sie sich die Insel an.«
    Obwohl sie verärgert war, konnte Emma dem verlockenden Angebot nicht widerstehen; zu lange hatte sie auf diesen Augenblick gewartet. Mit einem ebenso knappen wie nervösen »Danke« griff sie nach dem Fernglas und hielt es sich vor die Augen.
    Zuerst sah sie gar nichts. Enttäuscht bewegte sie das Fernglas hin und her, doch dann …
    »Da! Da ist was! Ich sehe … oh, ich sehe Bäume!«, jubelte sie.
    Sogleich biss sie sich auf die Lippen. Wollte sie sich vor Frau Karnshagen etwa die Blöße geben zu jauchzen wie ein Kind? Aber ach, es war einfach zu schön: Sanfte Hügel wurden von undurchdringlichen Wäldern bedeckt, das satte Grün der Bäume reichte bis zum Strand hinab. Goldgelber Sand und türkisfarbenes Wasser leuchteten unter einem wolkenlosen Himmel, und schäumende Wellen umspielten vereinzelte Felsen. Alles erschien Emma unberührt und rein.
    Sie ließ das Fernglas sinken. »Das Paradies«, flüsterte sie ergriffen.
    Die Kapitänsgattin lachte abfällig. »Keineswegs, Fräulein Röslin. Oder haben Sie schon einmal gehört, dass es im Paradies Menschenfresser gibt?«
    Mit einem Ruck wandte
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher