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Der Duft von Hibiskus

Der Duft von Hibiskus

Titel: Der Duft von Hibiskus
Autoren: Julie Leuze
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empfand sie die Situation als unerträglich. Fieberhaft überlegte sie, wie sie ihrem Gefängnis entkommen konnte. Doch jeder Ausweg, den sie in Gedanken durchspielte, endete in derselben Sackgasse: Wenn sie tatsächlich fliehen wollte, würde sie heimat- und mittellos auf der Straße landen. Ohne Referenzen und ohne geordnete Familienverhältnisse würde niemand sie einstellen, weder als Kindermädchen noch als Hausmädchen, wahrscheinlich nicht einmal als Küchenhilfe. Nein, so ging es nicht.
    Aber wie dann?
    Sie litt sehr darunter, dass sie sich mit niemandem austauschen konnte. Allein in ihrem Zimmer, drehten Emmas Gedanken sich unaufhörlich im Kreis, doch sie kam einer Lösung ihrer Probleme keinen Schritt näher. Auch von ihrer Mutter konnte sie keine Hilfe erwarten: Frau Röslin war ohne Abschied abgereist, Gott allein wusste, wohin, und Emma erfuhr weder, wo sie sich aufhielt, noch, wann sie zurückzukommen gedachte. Sie schien Emma also noch mehr zu grollen als der Vater. Emma vermisste ihre Mutter fast ebenso stark, wie sie Ludwig vermisste. Nach mir hingegen , dachte sie oft verzweifelt, sehnt sich offensichtlich niemand.
    Erst als eines Abends im Frühling der ehrgeizige Forscher und Botaniker Oskar Crusius zu Gast war, dessen Besuch eine hohe Ehre für Herrn Röslin bedeutete, wendete sich das Blatt. Herr Crusius bemerkte nichts von der frostigen Stimmung, die im Hause Röslin herrschte, und fing an, charmant mit Emma zu plaudern. Er fragte Emma nach ihrer liebsten Beschäftigung, lobte sie für ihr botanisches Interesse und ließ sich ihre Pflanzenzeichnungen zeigen. Scherzhaft schlug er vor, das »hübsche und begabte Fräulein Röslin« statt seines erkrankten Assistenten mit nach Australien zu nehmen. Er, Crusius, sollte dort im Auftrag des Hamburger Reeders und Überseekaufmanns Cesar Godeffroy unbekannte Pflanzen sammeln. Er musste sie zeichnen, konservieren und nach Deutschland verschicken. Godeffroy wolle seine naturkundliche Sammlung nämlich zu einem Museum erweitern, ferner wolle er die Dubletten der konservierten Pflanzen verkaufen.
    »Ich bin«, sagte Herr Crusius, »schon einige Jahre lang für Godeffroy in der Welt unterwegs, und das höchst erfolgreich. Doch leider«, er zwinkerte Emma zu, »mangelt es mir an Zeichentalent, sodass ich stets auf die Hilfe eines kundigen Assistenten angewiesen bin. Na, Fräulein Röslin, wie wäre es? Hegen Sie keine romantischen Sehnsüchte nach fernen Ländern?«
    Emma spürte den Blick ihres Vaters und wagte es zum ersten Mal seit Wochen, ihn offen zu erwidern. Doch was sie in seinen Augen sah, erschreckte sie. Denn sie fand keine Liebe, sondern Hass.
    Er würde mich nur allzu gerne am anderen Ende der Welt wissen, fuhr es ihr durch den Kopf. Und in genau diesem Augenblick traf sie ihre Entscheidung.
    Spontan sagte sie: »Einverstanden. Ich komme mit Ihnen, Herr Crusius. Ich zeichne schon lange Heilkräuter für meinen Vater, und ich werde mir alle Mühe geben, Sie nicht zu enttäuschen.«
    Herr Crusius hatte die Augenbrauen hochgezogen und sie erstaunt gemustert. Doch da von Herrn Röslins Seite kein Wort des Protests gekommen war und Emma ihre Zustimmung offensichtlich ernst gemeint hatte, war es eine Sache von nicht einmal einer Stunde gewesen, den Handel perfekt zu machen. Die Herren hatten sich zurückgezogen, und als es Emma erlaubt worden war, wieder zu ihnen zu stoßen, hatte sich alles geändert: Sie war nicht länger die Gefangene ihrer eigenen Eltern, sondern bezahlte Assistentin des Herrn Oskar Crusius.
    Und damit vollkommen allein verantwortlich für ihr zukünftiges Leben.
    Die unverhoffte Befreiung aus ihrer Gefangenschaft war ihr wie ein Geschenk des Himmels vorgekommen. Nun jedoch, da sie Herrn Crusius in einem fremden Lande wiedersehen sollte, stieg Panik in Emma hoch. Sie lag auf ihrem schmalen Bett und starrte an die dunkle Decke ihrer Kajüte. Hatte sie ihre botanischen Kenntnisse überschätzt? Würde sie Herrn Crusius’ hohen Erwartungen an ihr zeichnerisches Können genügen? Hätte er nicht doch lieber einen Wissenschaftler wählen sollen? Vielleicht würde er sie nach den ersten Wochen zornig und enttäuscht entlassen, um sich einen fähigeren Assistenten zu suchen – und wohin sollte sie dann gehen, an wen sich wenden, wovon leben?
    Der Vogelschwarm in Emmas Kopf flatterte aufgeregter denn je umher, an Schlaf war nicht zu denken. In der Schwärze der Nacht wünschte sie sich nichts sehnlicher, als ihr Verbrechen, worin auch
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