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Der Duft von Hibiskus

Der Duft von Hibiskus

Titel: Der Duft von Hibiskus
Autoren: Julie Leuze
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englischen Sprache in den vergangenen Monaten nicht aus so manch trauriger Stimmung herausgeholfen? Gottlob hatte sie ein entsprechendes Lehrwerk mitgenommen! Denn die Sprache ihrer neuen Heimat – das hatte sie sich noch vor der Abreise fest vorgenommen – wollte sie beherrschen, wenn sie in Australien ankam. Es machte sie bereits nervös, dass sie so gut wie nichts über den fernen Kontinent wusste; wenigstens wollte sie sich mit den dort lebenden Menschen verständigen können.
    Nun aber war eine botanische Übung an der Reihe. Emma beschloss, eine der Heilpflanzen aus ihrem Lieblingsbuch abzuzeichnen, einem Werk von Friedrich Gottlob Hayne, »Getreue Darstellung und Beschreibung der in der Arzneykunde gebräuchlichen Gewächse, wie auch solcher, welche mit ihnen verwechselt werden können«. Das Buch mit dem sperrigen Titel war neben der Bibel die wichtigste Schrift im Hause Röslin gewesen, und Emma hatte vor ihrer Abreise nichts unversucht gelassen, um sich ein Exemplar zu verschaffen. Zwar hatte der Vater sich standhaft geweigert, Emma Geld dafür zu geben, doch schließlich hatte er ihr sein eigenes Buch geschenkt. Bei dieser Gelegenheit hatte er sogar ein paar Worte mit ihr gesprochen; barsch hatte er gesagt: »Das abgegriffene Ding ist gerade im rechten Zustand für Australien. Ich wollte es schon lange ersetzen.«
    Auch wenn es ein Geschenk wider Willen gewesen war, hielt Emma das Buch nun hoch in Ehren. Schon in Stuttgart hatte sie oft hineingeschaut, namentlich dann, wenn sie eine Pflanze nicht erkannte, die ihr Vater gesammelt hatte und die sie abzeichnen sollte. Doch erst an Bord der Helene hatte sie gelernt, dieses und ihre anderen Bücher wahrhaft zu lieben. Ebenso wie das Zeichnen. Denn wenn sie zeichnete, hatte die Grübelei für ein, zwei Stunden ein Ende. Dann war sie vollkommen konzentriert und dachte an nichts anderes als an das Objekt, das sie möglichst naturgetreu zu Papier bringen wollte.
    »Herr Crusius kann sich also nicht beschweren«, murmelte sie, als sie ihre Utensilien unter den Arm klemmte und sich auf den Weg zum Salon machte, wo ein schwerer Eichenholztisch ihr als Zeichenplatz dienen würde. »Wenn ich in Brisbane ankomme, werde ich nicht nur Englisch sprechen, sondern auch so viel Übung im Zeichnen haben wie nie zuvor!«
    Zeichenstunde und Abendessen waren vorüber, und wieder stand Emma an der Reling. Doch jetzt war ihre Stimmung deutlich besser als am Nachmittag. Sie fühlte sogar ein wenig Stolz, denn Haynes Werk hatte ihr gute Dienste geleistet, und sie hatte eine sehr genaue Zeichnung zustande gebracht. Das Ergebnis – Gesamtpflanze, Blüte, Frucht – war nicht nur hübsch anzusehen, sondern würde jedem kritischen wissenschaftlichen Blick standhalten, da war Emma sich sicher. Natürlich war es einfacher, aus einem Buch abzumalen, als nach der Natur zu zeichnen, aber Letzteres würde sie in Australien noch oft genug tun.
    Australien …
    Unwillkürlich schweifte ihr Blick über den Horizont. Zu gerne hätte sie ihre neue Heimat endlich gesehen! In ihrem Kopf spukten die wildesten Vorstellungen herum, und sie brannte darauf, sie alle mit der Wirklichkeit zu vergleichen.
    Zwar durchfuhr Emma auch jetzt noch, nach so vielen Wochen, ein heftiger Schmerz, wenn sie an daheim dachte; an ihre überstürzte Abreise, die eher einer Flucht geglichen hatte denn einem würdevollen Abschiednehmen. Doch es gab auch Momente, in denen ihre natürliche Wissbegierde über den Schmerz siegte, und dann malte sie sich Australien in den buntesten Farben aus. Würde sie die vielen verschiedenen Arten der Eukalyptusbäume sehen mit ihren wachsüberzogenen Blättern und der seltsamen Schälrinde? Würden Lianen sie umschlingen? Würden Flughunde über sie hinwegflattern, Riesenkängurus ihren Weg kreuzen, würde sie gar die gefährlichen Krokodile zu Gesicht bekommen? Ach, und die farbenprächtigen Papageien, die wollte sie allzu gerne sehen!
    Vorerst sah sie allerdings nichts als Wasser. Und aus den Augenwinkeln … War da nicht ein kleines Mädchen?
    Emma wandte den Kopf und erkannte die fünfjährige Wilhelmine Schreiber, Tochter verarmter Bauern aus der Nähe von Tübingen. Emma hatte Wilhelmine in den letzten Wochen des Öfteren eine Leckerei zugesteckt. Als Passagierin des Zwischendecks war es der Kleinen zwar verboten, zu Emma aufs Hinterdeck zu kommen, doch da sich niemand sonst hier aufhielt, wagte die Kleine es von Zeit zu Zeit, sich über dieses Verbot hinwegzusetzen. Freundlich
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