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Der Duft von Hibiskus

Der Duft von Hibiskus

Titel: Der Duft von Hibiskus
Autoren: Julie Leuze
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begabt!«
    Emma hatte ihr Entsetzen über das mitleidslose Kapitänspaar verborgen, so gut sie konnte, und war der Aufforderung höflich nachgekommen. Doch im Stillen hatte sie sich vorgenommen, der kleinen Wilhelmine am nächsten Tag noch mehr Leckerbissen als sonst zuzustecken. Dabei hatte sie gewusst, dass das Stück Schokolade hier und die Scheibe frisch gebackenen Brotes dort lediglich Tropfen auf den heißen Stein waren.
    Auf diesem Schiff weiß ich wenigstens, wofür ich mich schäme, war es ihr durch den Kopf gegangen. Zu schlemmen, während andere hungern, das ist wahrlich nichts, worauf man stolz sein kann.
    Wilhelmines Stimmchen brachte Emma zurück ins Hier und Jetzt. Die Kleine reichte ihr den leeren Becher und sagte dankbar: »Das war gut. Zum Abendessen gab’s fast nichts, wissen Sie. Aber Mutter hat uns versprochen, dass wir jeden Tag Wasser bekommen, so viel wir wollen, wenn wir erst in Australien sind. Und Milch!«
    »Dann freu dich schon mal.« Emma lächelte. »Es ist bald soweit, sagt der Kapitän.« Sie kramte in ihrem Beutel nach dem Dörrobst, das sie vorsorglich für Wilhelmine eingepackt hatte. Hungrig machte das Kind sich darüber her, dann verabschiedete es sich und rannte über das leere Hinterdeck zurück zu ihren Eltern und Geschwistern.
    Emma schaute der Kleinen nach, und plötzlich überfiel sie absurder, heißer Neid. Wilhelmine hatte zwar nicht genug zu trinken und zu essen, löcherige Kleider und mit Sicherheit Läuse auf dem Kopf, aber sie hatte ihren Platz und wusste unverbrüchlich, zu wem sie gehörte. Sie war nicht allein.
    Tränen schossen Emma in die Augen.
    Reiß dich zusammen, ermahnte sie sich streng, bevor der Schatten, der stets in einem Winkel ihres Herzens auf einen Augenblick der Schwäche lauerte, Macht über sie bekommen konnte. Selbstmitleid hatte noch niemandem genützt. Ärgerlich tupfte sie die Tränen mit ihrem Taschentuch ab.
    Die Dämmerung verdichtete sich, es wurde rasch dunkel, und Emma warf einen letzten Blick auf den Ozean. Er war nicht mehr so ruhig wie noch am Tag; weiße Schaumkronen glänzten im Sternenlicht und hoben sich von der grundlosen Tiefe des schwarzen Wassers ab. Der Wind hatte deutlich aufgefrischt. Vielleicht würden sie ja tatsächlich an Fahrt gewinnen, so dass sie endlich, endlich die Moreton Bay erreichten.
    Emma warf sich in ihrem schmalen Bett hin und her, ohne Schlaf zu finden. Die bevorstehende Ankunft beschäftigte sie, und sie spürte, wie sich Angst in ihr ausbreitete. Was erwartete sie in ihrem neuen Leben? War es wirklich richtig gewesen, alles so weit zurückzulassen?
    Ihre Gedanken wanderten zurück nach Stuttgart, zu der Verzweiflung, die ihrem Erwachen aus der Bewusstlosigkeit gefolgt war. In ihrer Erinnerung hatte eine drei Tage lange Lücke geklafft wie eine blutige Wunde, und niemand hatte ihr helfen wollen, sie zu schließen. Mehr noch: Niemand hatte auch nur mit ihr gesprochen.
    Emma hatte sich bis zur Erschöpfung bemüht, ihr Gedächtnis wiederzufinden, doch es war vergebens. Sie kam zu dem Schluss, dass das, was geschehen war, so schrecklich gewesen sein musste, dass etwas in ihr die Erinnerung daran unwiderruflich gelöscht hatte. Geblieben war nur das diffuse Gefühl ungeheurer Schuld, und gerade weil es so wenig greifbar war, machte es sie in ihren schlaflosen Nächten fast verrückt. Doch so sehr sie sich auch den Kopf zermarterte – der Anlass für das Schuldgefühl blieb in den Tiefen ihrer Seele verborgen. Sie wusste nur noch, dass sie sich auf den Klavierunterricht bei Ludwig vorbereitet hatte, und dann – nichts mehr.
    Emmas Gedächtnisverlust war das eine; die rätselhafte Veränderung, die sie an ihrem Vater wahrgenommen hatte, das andere. Er, zu dem sie ein solch herzliches Verhältnis gehabt hatte, wechselte seit ihrem Erwachen kein Wort mehr mit ihr. Auch die Dienstmädchen hatte Herr Röslin angewiesen zu schweigen, und auf Emmas wiederholte Frage, was denn um Himmels willen geschehen sei, bekam sie nur stumme Verachtung zur Antwort. Sie wurde behandelt wie eine Gefangene: Der Vater verbot ihr auszugehen, Briefe zu schreiben, Freundinnen zu empfangen, ihren Klavierunterricht fortzusetzen. Ludwig kam nicht mehr ins Haus und machte auch sonst keinerlei Anstalten, mit Emma in Kontakt zu treten. Und da sie nicht allein hinausdurfte – wenn überhaupt –, war es ihr unmöglich, mit ihm zu sprechen.
    Anfangs war sie zu schwach, um sich darüber zu grämen, doch als ihre Kräfte zurückkehrten,
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