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Stieber - Der Spion des Kanzlers Roman

Titel: Stieber - Der Spion des Kanzlers Roman
Autoren: Wolfgang Brenner
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ERSTER TEIL
PARIS
    Am frühen Morgen des 10.   März 1871 machten zwei Holzsammler aus dem Stadtteil Levallois im westlichen Teil des Bois de Boulogne eine Entdeckung: Auf
     einer von Gestrüpp schon fast überwucherten Marmorbank saß ein Mann. Er hatte seinen Kopf wie im Schlaf in den Nacken gelegt,
     seinen Mund hielt er so weit offen, als schnarche er. Neben ihm auf der Bank stand eine leere Flasche Champagner. Als die
     Holzsammler sich heranschlichen, stellten sie fest, daß der Mann nicht schlief. Seine blauen Augen waren weit offen und starrten
     sie an. Der Mann war tot.
    Wäre er bloß betrunken gewesen, so hätten sie ihn ausgenommen. Der Fremde hätte später zur Polizei gehen können, aber die
     hätte ihn angesichts der Belanglosigkeit des Vorgangs in einer Stadt, in der bis vor kurzem täglich Hunderte im Kugelhagel
     der Deutschen umkamen, nicht einmal angehört und mit der Warnung, künftig nachts den Bois de Boulogne zu meiden, wieder weggeschickt.
    Wenn sie sich aber am Besitz eines Toten vergriffen, so liefen die beiden Gefahr, ermittelt und als Mörder vor Gericht gestellt
     zu werden. Der Mann war, wie seine Kleidung zeigte, zwar kein wohlhabender, aber auch kein armer Mensch, sondern ein gepflegter,
     also arbeitender und verdienender Bürger der Stadt. Die Holzsammler ließen ihre Finger von der Leiche und zeigten ihren Fund
     bei der Polizei an.
     
    Im belagerten Paris hatte es sechs Monate lang keine Nahrungsmittel zu kaufen gegeben, sieht man von faulem Pferdefleisch
     und ranzigem Brot ab. Bis zur Einnahme von Paris durch die deutschen Truppen am 1.   März waren wochenlang alle Neugeborenen und viele Kranke an Unterernährung und Infektionen gestorben. Selbst den französischen
     Unterhändlern, die vor den Toren der Stadt die Bedingungen des Waffenstillstandes aushandelten, schlotterten die Kleider am
     Leib. Dennoch funktionierte die französische Polizei weiterhin gut – nicht zuletzt, weil die Besatzer Wert darauf legten,
     daß eine zivile Verwaltung ihnen gewisse Aufgaben abnahm.
    So wurde Inspektor Lamartine an diesem 10.   März vom Quai des Orfèvres zur Polizeiwache am Rand des Bois de Boulogne beordert. Lamartine war vierunddreißig Jahre alt,
     frisch verheiratet und in der Erwartung eines ersten Kindes, das heißt: sehr besorgt angesichts der katastrophalen Verhältnisse
     in den Gebärkliniken der Stadt. Seinen Vorgesetzten galt Lamartine – zumindest seit seiner Eheschließung mit einer gleichaltrigen
     Jugendfreundin aus dem Marais – als ausgeglichen und ungewöhnlich tüchtig.
     
    Lamartine hatte sich am Morgen vorgenommen, nachmittags mit seiner Frau einen Arzt aufzusuchen. Jeanne klagte seit Tagen über
     einen in Intervallen auftretenden, stechenden Schmerz im Unterleib, der ihnen beide angst machte. Morgens hatte sie ihm beim
     Abschied gestanden, es komme ihr vor, als wolle das Kind vor der Zeit nach unten ausreißen. Dieser Satz seiner sonst nicht
     empfindlichen Gattin ging Lamartine den ganzen Tag über nicht aus dem Kopf. Durch die Dienstfahrt in den Bois de Boulogne
     würde sich seine Rückkehr erheblich verzögern. Für den Arztbesuch würde es zu spät sein, und er hatte nicht einmal die Möglichkeit,
     Jeanne von seiner Verspätung zu unterrichten.
    Lamartine kam also nicht gerade in einer aufgeräumten Stimmung in dem zuständigen Revier am Rand des Bois deBoulogne an. Die maulfaulen Holzsammler, die alles dransetzten, so schnell wie möglich wieder an ihre Arbeit zu gelangen,
     verstärkten seine schlechte Laune noch. Obwohl er sie mehrmals anschrie und ihnen mit Verhörarrest im Keller seiner Dienststelle
     am Quai des Orfèvres drohte, wiederholten die beiden Männer monoton ihre Aussage: Sie hatten den Mann gegen sieben Uhr auf
     der Bank gefunden und ihn noch niemals vorher gesehen.
    Schließlich ließ Lamartine sie gehen und begab sich mit dem Revierpolizisten zu dem Fundort, wo ein anderer Kollege, der kein
     Wort sprach, die Leiche bewachte. Lamartine machte sich sofort an die Untersuchung des Mannes. Die Pupillen des Toten waren
     geweitet, die Zunge war blau geschwollen. »Am Champagner ist der nicht gestorben«, erklärte Lamartine.
    Die beiden anderen schien das nicht zu interessieren, sie standen bloß da, klatschten frierend in die Hände und traten von
     einem Bein auf das andere, um die feuchte Kälte aus ihren Gliedern zu vertreiben.
    Lamartine durchsuchte die Taschen des Toten. Er fand nirgendwo ein Dokument oder einen anderen
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